Eine Frage des Herzens
besucht hatten, einer verborgenen kleinen Bucht mit einem halbmondförmigen Sandstrand.
Mirandes Markenzeichen war ein Barett, das sie nicht einmal im Bett absetzte. Sie hatte langes, kastanienbraunes Haar, eine blasse Haut und ein Lächeln wie Mona Lisa. Sie trug zahlreiche Armbänder. Einige waren von ihrer Mutter aus glänzendem, juwelenfarbenem Stickgarn geknüpft worden, und zwei bestanden aus grünen Glasperlen. Sie stammten von ihrer amerikanischen Tante und waren vor deren Tod vom Dalai Lama gesegnet worden. Ihr Lieblingsgeldbeutel, aus bernsteinfarbener Wolle und mit türkisfarbenem Garn bestickt, war ein Geschenk von einer anderen Tante, die in Aix-en-Provence lebte. Sie trug immer eine Halskette mit einem kleinen goldenen Kreuz von ihrer Großmutter in St. Paul de Vence.
Regis liebte Mirande wegen ihrer künstlerischen Ader, ihrer exzentrischen Eigenschaften und der Verbundenheit mit ihrer Familie. Sie hatte das Gefühl, eine Seelenverwandte in ihr gefunden zu haben, die sich auf der gleichen Wellenlänge befand. Mütterlicherseits von irischen Vorfahren abstammend, war sie stolz auf ihren zweiten Vornamen Grace, nach der furchtlosen irischen Freibeuterin Grace O’Malley. Regis – die seit dem Sommer noch immer ein wenig unter Schock stand – musste ihre Furchtlosigkeit erst wiedergewinnen, und auch deshalb suchte sie Mirandes Nähe.
»Wir sollten mal wieder einen Ausflug machen«, sagte Mirande am Freitagnachmittag, als alle im Zimmer waren und lernten.
»Wir könnten zu mir nach Hause fahren«, schlug Regis vor. »Im Star of the Sea findet dieses Wochenende die Weinlese statt, und ich habe versprochen zu helfen.«
»Dich zieht es aber ziemlich oft nach Hause«, meinte Monica und beugte sich von der oberen Ebene des Etagenbetts hinunter.
»Sie braucht jetzt ihre Familie«, erklärte Mirande und legte den Arm um Regis’ Schulter.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Monica rasch. »Ich vermisse Regis nur so schrecklich, wenn sie weg ist.«
»Dann komm doch zur Weinlese mit«, forderte Regis sie auf.
»Ich bin jedenfalls mit dabei«, sagte Juliana.
»Klingt gut«, stimmte Monica ihr zu. »Ich war in einem katholischen Internat, und das Einzige, was uns fehlte, war ein Weinberg. Ich fände es cool, mal einen zu sehen.«
»Also gut«, sagte Mirande, das Barett in gefährlicher Schräglage über einem Auge. »Aber nur, wenn wir unterwegs einen kleinen Abstecher machen.«
»Wohin?«, wollte Monica wissen.
»In das Reich der Seebären, Piraten, Räuberbarone, Domestiken, Rolls-Royce-Luxuskarossen und Ausschweifungen – in meine Heimatstadt Newport, Rhode Island!«
»Donnerwetter!«, sagte Juliana.
»Worauf warten wir noch?«, fragte Regis.
Und so packten sie rasch das Nötigste in eine Tasche und stiegen in Mirandes Auto. Der Volvo-Kombi hatte früher ihrer Mutter gehört, und am Rückspiegel hingen Buddha-Perlen, Kreuze und ein Kranz aus blauen, rosafarbenen und gelben Blüten. Sie verließen Chestnut Hill und fuhren auf der I- 95 in südliche Richtung. In Providence nahmen sie die Ausfahrt und kurvten auf den gewundenen Landstraßen die Narragansett Bay entlang, durch Barrington, Bristol und Portsmouth. Das Laub begann sich zu färben, und Regis lehnte sich zurück und ließ die Herbstfarben – Orange, Gelb- und Rottöne sowie nussbraune Schattierungen –, die Balsam für ihre Seele waren, auf sich einwirken. Als sie Newport erreichten, steuerten sie unverzüglich Mirandes Elternhaus an, im Stadtteil Fifth Ward gelegen, zwei Straßen von der Bucht entfernt.
»Bei der Bustour mit den Touristen lassen sie diese Gegend aus«, erklärte Mirande. »Das ist ein typisches Arbeiterviertel, in dem hauptsächlich Iren wohnen.«
»Mir gefällt es.« Regis betrachtete die Straße zu beiden Seiten. Die Häuser wirkten gepflegt, mit Kürbissen auf den Stufen der Außentreppen und blühenden Chrysanthemen in den Gärten. Tom Kelly pflegte zu sagen, die Gartenarbeit liege den Iren im Blut. Unfassbar, dass er Star of the Sea verlassen hatte. Sie konnte sich die Weinlese ohne ihn nicht vorstellen.
»Wie lange könnt ihr bleiben?«, fragte Mrs. St. Florent, die sich über den unangemeldeten Besuch freute. Sie hatte an ihrem Webstuhl gesessen und an einem Wandteppich für ein Mönchskloster in Vermont gearbeitet, doch umgehend alles liegen und stehen lassen, um ihnen Apfelwein und Doughnuts zu bringen.
»Bis morgen früh. Dann fahren wir zu Regis, um bei der Weinlese zu helfen.«
»Ach ja«,
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