Eine Frage des Herzens
Mark durchdrungen, jeden Zentimeter seiner Haut. Als sie ihre Hand von ihm löste, kehrte die Kälte zurück. Und die Leere, die er jedes Mal empfand, wenn Bernie ihm nahm, was sie gegeben hatte.
Nach dem Abendessen und der Komplet ging Bernie nach oben. Eleanor Marie und Theodore beobachteten sie auf Schritt und Tritt, aber das war ihr im Moment egal. Anne-Marie sah sie fragend an und umarmte sie, als würde sie ahnen, dass Bernie Zuwendung brauchen konnte. Doch was sie im Augenblick am allermeisten brauchte, war Alleinsein.
In der friedlichen Atmosphäre ihrer Zelle zog sie die Decke von ihrer Pritsche, wickelte sich darin ein und setzte sich auf den Stuhl am Fenster. Eine sonderbare Zwangsvorstellung hatte Besitz von ihr ergriffen. Sie war überzeugt, dass sie, wenn sie die Straße beobachtete, ihren Sohn entdecken und erkennen würde. Dokumente konnte man verbrennen, doch sie spürte seine Gegenwart mit einer Glut, die jedes Feuer in den Schatten stellte.
Es hatte im Sommer angefangen, in Connecticut, mit Brendan McCarthy. Der Anblick des rothaarigen, blauäugigen jungen Mannes hatte ein tiefes Bedürfnis und unermessliche Sehnsucht nach ihrem Sohn ausgelöst, die sie in sich verschlossen glaubte. Tom war es ähnlich ergangen. Ein einziger Blick auf Brendan – den Freund ihrer Nichte – hatte genügt, um das Kartenhaus zum Einsturz zu bringen.
Sie hatte gespürt, wie die Mauern gesprengt wurden, die sie rund um die Geburt ihres Kindes errichtet hatte. Die Mauern waren hoch und dick, sie hatte sie für undurchdringlich, für unzerstörbar gehalten. Doch das war ein Trugschluss. Selbst jetzt, auf ihrem Stuhl kauernd, spürte sie, wie die Wände unter der Wucht der Schläge zusammenkrachten. Nach dreiundzwanzig Jahren, in denen sie sich von ihren Gefühlen abgeschottet und ihr Herz in eine uneinnehmbare Festung verwandelt hatte, war die Zerstörung umso nachhaltiger.
Sie fragte sich, wie es Tom gehen mochte. Hatte er die gleichen Empfindungen, vielleicht sogar von Anfang an, gehabt? Sie wusste, wie sehr er sich gewünscht hatte, das Kind zu behalten. Und dass er ihre Vision in der Blauen Grotte für alles verantwortlich machte, was danach geschah – und ihren anschließenden brennenden Wunsch, Marias Ruf zu folgen und ins Kloster einzutreten.
Doch Tom kannte nicht alle Einzelheiten der Geschichte. Da sie noch nie mit Verwirrung umzugehen vermochte, hatte sie diese vor ihm geheim gehalten. Es gab einen Punkt in ihrer Entscheidung, das Kind zur Adoption freizugeben, der nur zwei Menschen auf der Welt bekannt war – und Tom gehörte nicht dazu.
Sie saß am Fenster und beobachtete die Leute unten auf der Straße. Schmiedeeiserne Straßenlaternen beleuchteten den Gehweg, doch die hohen Bäume warfen Schatten und verwischten die Gesichtszüge der Passanten. Jedes Mal, wenn sie jemanden mit roten oder rötlichen Haaren entdeckte oder wenn es schien, als könnte er Sommersprossen haben, drohte ihr Herz auszusetzen. So war es nicht immer gewesen. Im Lauf der Jahre hatte sie unzählige rothaarige junge Männer zu Gesicht bekommen, ohne einen solchen Wirrwarr der Gefühle zu erleben oder das Bedürfnis zu verspüren, in irgendeiner Weise in ihr Leben einzudringen.
Warum ausgerechnet jetzt? Bernie betete um Erleuchtung. Sosehr Tom ihre Entscheidung auch für einen Fehler hielt, sie hatte ihr Gelübde niemals in Frage gestellt. Das Gute an einer Vision war, dass sie in den eigenen Augen unstreitig war. Sobald man sie als Wahrheit akzeptiert und die Realität der wundersamen Erscheinung verinnerlicht hatte, waren die Reaktionen mehr oder weniger vorherbestimmt.
Sie wickelte sich enger in die Decke ein. Warum hatte sie nie darüber nachgedacht, dass sie die Vision
vor
Beginn der Schwangerschaft gehabt hatte?
Wenn Maria wirklich gewollt hatte, dass sie ins Kloster eintrat, wieso war sie dann überhaupt schwanger geworden? Sie wandte den Blick vom Fenster ab und betrachtete die kleine Marienstatue aus Keramik, die auf dem schlichten Schreibpult stand.
»Wolltest du, dass ich Mutter werde?«, fragte sie, doch plötzlich kam ihr die Frage absurd vor.
Denn sie
war
Mutter geworden. Sie war damals mit Tom nach Irland gekommen, auf den Spuren der Geschichte seiner Familie. Im Mai waren sie an die Westküste gereist, zu den Klippen von Moher, einem Ort, der sie ungemein inspiriert hatte. Annähernd neun Monate später, an einem kalten Januartag, hatte sie in einer Dubliner Klinik entbunden. Durch das Prisma dieser
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