Eine Frage des Herzens
wurde vor Verzweiflung lauter. »Du verstehst nicht!«
»Da hast du verdammt recht.« Sein Blick war hitzig. »Dann erklär es mir.«
»Wir werden ihn nicht finden.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Dafür haben sie gesorgt.«
»Was sagst du da?« Ihre Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube.
»Sie hat die Unterlagen vernichtet, Schwester Eleanor Marie. Damit wir ihn nicht finden. Wir haben keine Chance.«
Toms Puls raste. Er sah das Gesicht der alten Hexe wieder vor sich. Er erinnerte sich an den Streit mit ihr auf den Stufen des Konvents, vor dreiundzwanzig Jahren, als sie die Polizei gerufen hatte, an die Genugtuung und den Triumph in ihren schwarzen Augen, als er festgenommen und abgeführt wurde.
»Das kann nicht sein. Unmöglich.«
»Die Unterlagen sind weg, Tom.«
»Unser Sohn ist eine Person, ein lebender, atmender Mensch. Seine Geburt ist amtlich, Bernie. Wir sind seine leiblichen Eltern. Sie kann seine Geburtsurkunde nicht einfach vernichtet haben!«
»Aber die Dokumente sind nicht da«, erwiderte Bernie unter Tränen. »Sie hat mir den Schlüssel zu den Aktenschränken überlassen, damit ich mich selbst davon überzeugen konnte. Natürlich kann es keinen Zweifel daran geben, dass er existiert – sie hat nur die Papiere beseitigt, die uns helfen könnten, ihn aufzuspüren.«
»Beseitigt?«
»Verbrannt, behauptet sie.«
»Um zu verhindern, dass wir ihn finden?«, brüllte Tom.
»Ja, genau das hat sie getan!«, schrie sie zurück.
»Ich habe dir gleich gesagt, wir hätten früher herkommen sollen. Wir hätten ihn gar nicht erst weggeben sollen. Großer Gott, Bernie!« Er packte sie an den Schultern und rüttelte sie. In seinem Blick spiegelte sich ungezähmte Wut. Bernie wich erschrocken zurück. Studenten blieben stehen und starrten sie an. Er ergriff ihren Arm und führte sie weg von der Skulptur, am Kampanile vorbei, über den Platz und auf die Straße hinaus. Die Passanten sahen fassungslos zu, wie er eine Nonne mit Gewalt abführte.
Sie riss sich los und eilte ihm voraus zum Fluss hinunter. Der schwarze Schleier flatterte über ihren Schultern. Er hätte gerne die Hand nach ihr ausgestreckt, doch er hielt sich zurück. Sie gingen am Liffey entlang, und Tom richtete seinen Blick auf das Wasser, um sich zu beruhigen. Der Regen hatte aufgehört, doch die Wolken spiegelten sich in den schwarzen Wellen. Er stellte sich vor, wie der Fluss in die Dublin Bay mündete, sich mit dem Meer vereinigte.
Sie gelangten an die gusseiserne Fußgängerbrücke und überquerten sie. Die Straßenlaternen, in regelmäßigen Abständen aufgestellt, gingen flackernd an. Seine Wut brannte in ihm, doch er unterdrückte sie. Als sie ihn endlich anschaute, sah er, dass sie am Boden zerstört war. Ihre blauen Augen waren flehentlich auf ihn gerichtet, baten um ein freundliches Wort oder vielleicht um Vergebung und erweichten ihn. Er stand da, mit klopfendem Herzen, und sah sie an. Ein paar rote Haarsträhnen hatten sich aus dem Schleier gelöst, und er steckte sie geistesabwesend zurück.
»Und was machen wir jetzt?«, sagte er.
»Wir könnten es im Krankenhaus versuchen. Dort müssen sie seine Geburtsunterlagen haben.«
Er biss die Zähne zusammen. Hielt sie das ernsthaft für eine Lösung? Er war nahe daran, abermals zu explodieren, aber ihre kummervollen Augen hielten ihn im Zaum. Er würde sich zurückhalten. Hatte sie die Auseinandersetzungen vergessen, die sie im neunten Schwangerschaftsmonat gehabt hatten? Sie hatte auf einer Adoption bestanden. Er hatte ihr die Stirn geboten, doch da er auf verlorenem Posten kämpfte, hatte er sie zu überreden versucht, wenigstens die Kelly-Anwaltsfirma in die Abwicklung des Verfahrens einzuschalten.
Sie hätten ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Familie gehabt, in die sein Sohn aufgenommen würde, und seinen Werdegang im Auge behalten können. Doch Bernie hatte ihn daran gehindert, seine Verwandten einzuweihen, und alle Vorbereitungen mit der Kirche getroffen – unter der Leitung der Novizenmeisterin des Ordens, in den sie einzutreten beabsichtigte.
»Bernie, du hast im Gethsemani entbunden.« Er versuchte so ruhig und beherrscht wie möglich zu sprechen. »Glaubst du nicht, dass Eleanor Marie einen Weg gefunden hat, sich auch die Unterlagen der Klinik zu beschaffen?«
»Das wissen wir erst, wenn wir es versucht haben.« Ein Hauch ihres alten Widerspruchsgeistes kehrte zurück, ihrer typischen Art, die Fronten abzustecken – gleich auf welchem
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