Eine Frage des Herzens
Tatsache betrachtet, schien der Rest ihres Lebens plötzlich zusammenzubrechen.
Das Gethsemani Hospital. Es wurde von Nonnen geleitet, die ihre geliebten Schwestern werden sollten, und sie hätte sich die Geburt nirgendwo anders vorstellen können. Sie erinnerte sich, wie Tom sie angefleht hatte, seinen Tanten und Cousins von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, weil die Kellys wussten, wo die beste medizinische Betreuung für Mutter und Kind gewährleistet war.
Aber sie hatte niemanden hineinziehen wollen – oder vielleicht lag es daran, dass sie ihm nicht genug vertraut hatte. Sie war damals noch sehr jung gewesen und hatte sich geschämt. Vor der Ehe schwanger zu werden war das Schlimmste, was einem anständigen katholischen Mädchen passieren konnte. Was würde seine Familie von ihr halten, wenn sie davon erfuhr? Ganz zu schweigen von ihrer eigenen?
Deshalb hatte sie sich für das Gethsemani Hospital entschieden. Er war bei der Geburt dabei gewesen. Sie hatte es sich nie, kein einziges Mal gestattet, sich diesen Tag ins Gedächtnis zurückzurufen. Es hatte ihn gegeben, doch die Erinnerung daran hatte sie hinter die dicke Schutzmauer verbannt, die nun zerfiel. Auf der spirituellen Ebene hatte sie damit ihren Frieden geschlossen, indem sie sich einer höheren Macht fügte: »Dein Wille geschehe.« Jeden Tag schlossen ihre Gebete Dankbarkeit für die Geburt ihres Sohnes, für Tom Kellys Freundschaft und die Liebe ein, die sie für beide empfand.
Die Einzelheiten der Entbindung standen auf einem anderen Blatt. Die Wehen, die annähernd einen Monat vor dem errechneten Geburtstermin einsetzten, die geplatzte Fruchtblase, die Schmerzen, die sie zu zerreißen drohten, als sich das Kind für die Geburt rüstete, der Druck von Toms Hand, der ihre Hand hielt, die qualvolle Enge in der Brust, als ihr Herz brach, wieder und wieder, das graue Licht des Winters, das durch die Fenster des Krankenhauses fiel, das Gefühl, als ob die Zeit stillstünde, die aufsteigende Panik, als ihr bewusst wurde, dass sie ihre Einstellung trotz allem noch ändern, dass sie Tom heiraten und das Kind behalten konnte, dass es noch nicht zu spät war.
Es wäre noch nicht zu spät gewesen …
Doch jetzt war es zu spät.
Dieses Gefühl hatte sie, als sie nun die Decke festhielt, die sie um ihre Schultern gewickelt hatte, sich auf dem Stuhl mit der geraden Rückenlehne hin und her wiegte und die namenlosen Gesichter der Passanten musterte, die unten auf der Straße vorübergingen. Ein anderes Gesicht erschien in ihrer Erinnerung. Es gehörte der Frau, die am Tag nach der Geburt ihres Sohnes im Krankenhaus aufgetaucht war, ein Gesicht mit brennenden Augen hinter einer Brille mit einem silbernen Drahtgestell.
»Lass es nicht zu spät sein«, flüsterte sie. Sie war nahe daran, den Verstand zu verlieren, als sie auf die Straße hinuntersah, zitternd in ihrer Decke, und sich fragte, ob man sich so fühlte, wenn man seinen Glauben verlor.
5
A m Bordstein haltend, kam sich Tom wie ein ungehobelter Klotz vor, der bei einem Rendezvous auf seine Angebetete im Auto wartete, statt sie an der Haustür abzuholen. Aber er wollte Bernie nicht noch mehr unter Druck setzen oder sich Ärger mit der Werwolf-Nonne einhandeln, indem er an die Tür des Konvents klopfte. Er saß in Billys silberfarbenem BMW , der auf Neutral oder Leerlauf geschaltet war, und musterte das Fenster des Sprechzimmers. Eleanor Maries schwergewichtige Handlangerin spähte hinter dem weißen Vorhang hervor. Das war ein unheilvolles Omen, und obwohl es noch nicht einmal neun Uhr morgens war, hatte er eine dunkle Ahnung, wie der Tag enden würde. Höchstwahrscheinlich würde es nicht ohne Gewalt gehen.
Er hatte die ganze Nacht damit verbracht, sich einen Plan zurechtzulegen. Schlaflos an die Decke starrend, hatte er sämtliche Möglichkeiten durchdacht – Plan A funktionierte nicht, deshalb brauchten sie Plan B. Er hoffte, dass er ihn nicht hinter Gitter bringen würde, aber im Grunde war ihm selbst das egal. Jetlag, Schlafmangel und eine unbändige Wut hatten ihn hochgradig reizbar gemacht, so dass er fürchten musste, beim kleinsten Anlass zu explodieren. Als Bernie auf den Gehweg hinaustrat und auf ihn zukam, klopfte sein Herz.
»Guten Morgen, Tom.« Sie stieg ein.
»Guten Morgen, Schwester.«
Ihr Gesicht war bleich, sie hatte violette Ringe unter den Augen. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes dünnhäutig; als junges Mädchen hatte man ihr die jeweilige Stimmung immer am
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