Eine Frage des Herzens
Auszeit genommen hatten. Sie waren an die Westküste gefahren, in die Grafschaft Clare. Bernie wollte schon immer die Cliffs of Moher sehen. Sie kannte die atemberaubende Landschaft von Bildern und war überzeugt, dass sie, wenn sie auf den Klippen stehen würde, das Gesicht Amerika zugewandt, sich leichter von einem alten Traum verabschieden und Tom würde sagen können, dass ihr Entschluss endgültig feststand.
Doch als der Zeitpunkt da war, brachte sie es nicht übers Herz. Tom hatte die Arme um sie gelegt, als sie auf den Klippen hoch über dem Meer standen. An jenem ersten Tag im Mai war die Luft noch frisch. Zitternd in seinen Armen erkannte sie, dass es nichts gab, was sie sich in diesem Augenblick mehr gewünscht hätte. Sie war nicht blind in ihr Unglück gestolpert, sondern wusste genau, was sie tat. Sie hatte seine Hand gehalten, als sie gemeinsam den Saumpfad verließen und eine Wiese entdeckten, auf der zahlreiche Blumen blühten.
Sie hatten sich in das hohe Gras gelegt, sich gegenseitig entkleidet und sich zum ersten Mal geliebt. Sie hatte sich ihm entgegengewölbt, als er in sie eindrang, und er hatte sie angeschaut, als könnte er auf den Grund ihres Herzens sehen.
Er war immer an ihrer Seite gewesen. Ihr Herz gehörte ihm, seit jenem Augenblick, ihm und ihrem gemeinsamen Sohn. Sie waren nach Dublin zurückgekehrt. Sie hatte das Zimmer aufgegeben, das sie gemietet hatte, und mit Tom ein kleines Apartment in Phibsboro bezogen. Bei den Ladeninhabern in der Nachbarschaft und den Bedienungen im O’Malley’s – den einzigen Leuten, zu denen sie Kontakt hatten – hatten sie vorgegeben, verheiratet zu sein. Tom war seinen Kelly-Cousins aus dem Weg gegangen, was nicht leicht war, wenn man bedachte, wie bekannt sie in Dublin waren. Bernie hatte die Nonnen bis zum Schluss gemieden, bis zum achten Monat ihrer Schwangerschaft – als sie ein Krankenhaus für die Entbindung brauchte und entscheiden musste, was mit ihrem Kind geschehen sollte.
Als sie nach der Geburt in ihrem Bett lag, das Licht gedämpft und Thomas leise atmend an ihrer Brust, hatte sie beide Erfahrungen noch einmal Revue passieren lassen – die göttliche Gabe der Marienerscheinung und das menschliche Wunder der Geburt ihres Sohnes. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Warum wurde sie auf diese Weise geprüft? Wie konnte man erwarten, dass sie die richtige Wahl traf, wenn beide Optionen so verlockend und so erschreckend zugleich waren?
Sie schloss die Augen und betete um ein Zeichen. Sie hatte leise zu weinen begonnen. Wenn Maria doch erscheinen und ihr sagen würde, was sie tun sollte. Sie erinnerte sich an Schwester Eleanor Maries Worte über die Pflicht, ihrem Sohn ein richtiges Zuhause zu geben, mit Eltern, die sich im Stand der Ehe befanden, und einer Mutter, die nicht von dem glühenden Verlangen beseelt war, Nonne zu werden. Sie hatte ihre eigene Mutter erwähnt, die das Wohl ihres Kindes den eigenen Interessen geopfert hatte. Wollte Bernie so werden wie sie?
»Bitte, lieber Gott«, hatte sie gebetet, »hilf mir, das Richtige zu tun, weise mir den Weg, erhöre mich durch die Fürbitte der gebenedeiten Jungfrau Maria.«
Sie war eingeschlafen und hatte von Tom geträumt. Sie befanden sich in einem Ruderboot auf dem Connecticut River, unweit des Anwesens von Star of the Sea. Der Himmel war bleiern, und Tom ruderte sie an Land. Bernie senkte den Blick – sie hielt ihr Kind im Arm. Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubender Donner die Stille, und Blitze zuckten am Firmament. Silbernes Licht floss herab, als wäre der dunkle Himmel ein Vorhang, der in zwei Hälften zerriss. Es fiel auf eine schmale Bucht hinter einer Reihe von Binsen, überzog die Oberfläche des Wassers mit seinem hellen Schein.
Tom ruderte näher ans Ufer. Bernie begann zu weinen – sowohl im Traum als auch in Wirklichkeit. Tränen rannen aus ihren Augen auf das Baby, das sie in den Armen hielt. Toms Ruder teilten das Wasser, das leise plätscherte. Als sie sich dem Sumpfgras näherten, verschmolz der Fluss mit dem silbernen Licht. Es blendete – war zu grell, um es mit bloßem Auge zu betrachten.
Als sie das Ufer erreichten, sprang Tom an Land und vertäute das Boot. Er streckte die Arme nach seinem Sohn aus, und Bernie küsste ihn, wohl wissend, dass es ein Abschied war. Ihre Tränen tropften auf seine Wangen; er lächelte. Tom legte ihn in ein winziges Boot, das in den Binsen verborgen war. Er versetzte ihm einen leichten Stoß, und das Boot
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