Eine Frage des Herzens
driftete davon.
Bernie wachte auf. Graues Licht fiel durch die Fenster des Krankenhauses und erfüllte den Raum. Sie weinte noch immer, doch als sie ihr Gesicht berührte, spürte sie etwas Körniges unter ihren Fingern. Ihre Tränen hatten sich in Salzkristalle verwandelt. Sie waren ihre Wangen hinab auf das Gesicht ihres Sohnes gefallen. Als sie ihn anblickte, sah sie, dass der Kratzer verheilt war. Er war verschwunden, spurlos. Kein einziger Blutstropfen, nicht die geringste Schwellung war zurückgeblieben. Thomas’ Wange war glatt und völlig unversehrt. Bernie schnappte nach Luft und starrte ihn ungläubig an. Sie hatte um ein Zeichen gebeten, doch nicht um dieses …
Verheiratete Paare, Eltern, die unter einem Dach lebten, die Blaue Grotte,
Liebe meinen Sohn,
Tränen, die sich in Kristalle verwandelten, zu Eissplittern erstarrten, die geheilte Wunde – in ihrem Kopf überschlugen sich die Botschaften. Doch ihr Herz wusste nur eines – dass sie ihr Kind liebte, mehr als ihr eigenes Leben. Wenn es ihr bestimmt war, ihn aufzugeben, wenn es für ihn das Beste war, musste sie sich von ihm trennen.
»Schwester!«, rief sie. »Bitte helfen Sie mir.«
Binnen Sekunden war sie von Krankenschwestern umringt, die fragten, was geschehen sei, sie trösteten, ihr Thomas abnahmen. Zitternd küsste sie ihn. Sie streckte die Arme nach ihm aus, aber sie würde ihn ja wiedersehen. Tom und sie würden noch einmal die Gelegenheit haben, ihn zu küssen und im Arm zu halten, ihm für immer Lebewohl zu sagen. Doch als sie an all das zurückdachte, was folgte, wusste sie, dass sie sich in jenem Augenblick von ihrem Sohn verabschiedet hatte, als sie aus ihrem Traum vom silbernen Wasser erwachte.
»Der Gottesdienst ist vorüber. Gehet hin in Frieden«, sagte der Priester nun, Ewigkeiten später. »Um Gott und die Menschen zu lieben und einander zu dienen.«
»Amen«, antworteten die Gläubigen.
»Amen«, erwiderte Bernie, bekreuzigte sich und stand auf.
Sie reihte sich in die Schlange ein, die zum rückwärtigen Ausgang der Kirche strebte. Der Priester stand draußen vor der Tür, auf dem Gehsteig, und schüttelte Hände. Bernie nickte ihm zu, ihm für die Messe dankend. Sie ging einige Blocks weit durch das Viertel, dann bog sie ab, um den Rest des Weges am Fluss zurückzulegen.
Sie fragte sich, wo Seamus wohl wohnte, ob er jeden Tag den Liffey sah, und blickte nach Osten, zu der Stelle, wo der Fluss ins Meer mündete. Die Morgensonne hatte die Wolken durchbrochen. Silbernes Licht ergoss sich auf die Erde, spiegelte sich in der Oberfläche des Wassers.
Der Fluss glänzte wie geschmolzenes Silber. Sie starrte ihn an, und ihre Nackenhaare sträubten sich. Sie fragte sich, ob es Binsen in den Sumpfgebieten des Liffey gab, einen sicheren Hafen für ein kleines vorbeidriftendes Boot. Sie dachte an Moses, und sie dachte an ihren Sohn.
Der Glaube war ein echtes Mysterium. An guten Tagen schienen sich alle Bausteine des Lebens nahtlos zusammenzufügen. Sie wachte morgens auf und hatte ein klares Bild vor Augen. Bei bestimmten Entscheidungen war das Ergebnis vorhersehbar. Ängste und Zweifel wurden durch ihr Wissen um die Liebe Gottes beschwichtigt.
An schlechten Tagen hatte sie das Gefühl, sich im Nebel verirrt zu haben. Sie wusste nicht, woher sie gekommen war, geschweige denn, wohin der Weg führte. Was immer hinter der nächsten Biegung liegen mochte, konnte sie oder die Menschen verletzen, die sie am meisten liebte. Die Dämonen lagen auf der Lauer – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
An schlechten Tagen brauchte sie ihre Lieblingszeile aus dem Glaubensbekenntnis, um die Krise zu überstehen – den Glauben an das Sichtbare und Unsichtbare. Normalerweise war es das Unsichtbare, das ihr Angst einflößte. Heute war es das Sichtbare.
Sie sah das silberne Licht und konnte nicht aufhören, an Seamus’ Blick zu denken. Nur sie wusste, was er zu bedeuten hatte. Sie bezweifelte, dass er sich selbst darüber im Klaren war. Sie war es, die diese grenzenlose Wut, Verletzung und Erbitterung in seinen Augen verursacht hatte.
Ihr Sohn hatte sie geliebt. Sie wusste es, mit jeder Faser ihres Seins. Sie hatte diese Liebe gespürt, als er in ihr wuchs, hatte sie gesehen, als er in ihren Armen lag und sie anblickte. Die Liebe zwischen Mutter und Kind. Sie hatten nur zwei Tage miteinander verbracht, doch das reichte aus. Schwester Eleanor Marie hatte recht gehabt, es war eine emotionale Bindung entstanden.
Und sie
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