Eine Frage des Herzens
hatte diese Liebe verraten.
Ungewollt, doch genau das war geschehen, als sie ihn weggab. Fremde hatten ihn den Armen seiner Mutter entrissen. Sie hatte geahnt, dass sie ihn nicht wiedersehen würde, aber er war zu klein, um zu begreifen, dass es ein Abschied war.
In all den Jahren als Ordensschwester, bis zu dieser Reise nach Dublin, war sie der festen Überzeugung gewesen, dass ihr Sohn in einer harmonischen Familie aufgewachsen war, doch das hatte sich als Irrglaube erwiesen. Wäre der Schmerz in seinen Augen so offenkundig gewesen, wenn er eine richtige Familie gehabt hätte? Sie würde es nie erfahren.
»Thomas James Sullivan«, sagte sie laut und betrachtete das silberne Band des Lichtes, das sich über die Mündung des Liffey breitete.
Als Tom an diesem Morgen Bernie abholte, stieg er mit klopfendem Herzen die Treppe zu ihrem Apartment hinauf. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte zahlreiche Pläne und Möglichkeiten ersonnen, die Situation zu verbessern. Bis Mitternacht hatte er in seinem Zimmer mit Blick auf den Merrion Square wach gelegen. Als offensichtlich war, dass er kein Auge zutun würde, war er aufgestanden und hatte einen Spaziergang gemacht.
Er streifte durch die Straßen von Dublin, suchte die Orte auf, an denen er mit Bernie gewesen war, auf Klarheit hoffend. Vorbei an Trinity College, Custom House, O’Connell Street und zurück über den Liffey, die Grafton Street entlang bis O’Malley’s Pub. Er war um diese Zeit natürlich geschlossen, aber er hätte ein Glas gebrauchen können.
Als er St. Stephen’s Green durchquerte, an den Obdachlosen vorbei, die auf den Parkbänken schliefen, blieb er stehen. Einige von ihnen waren kaum den Kinderschuhen entwachsen. Tom erspähte einen rothaarigen jungen Mann und betete, dass Seamus nie zu ihnen gehört hatte. Sein Sohn hatte etwas aus seinem Leben gemacht, und Tom war stolz, wenn er nur daran dachte.
Bernie quälte sich mit Schuldgefühlen in Anbetracht dessen, was Seamus durchgemacht hatte, was Tom gut verstehen konnte. Bisweilen erging es ihm ähnlich, weil es ihm nicht gelungen war, ihr die Entscheidung auszureden, zu der sie gelangt war. Doch statt jetzt am Boden zerstört zu sein, weil Seamus sie zurückgewiesen hatte, fühlte sich Tom besser als seit Jahren.
Der junge Mann besaß ein großes Herz und innere Stärke, den Glauben an sich selbst, an seine eigenen Überzeugungen. Er hatte einen guten Job als Fahrer des Greencastle und ehrgeizige Träume, wollte Jura studieren. Tom hatte beinahe zeitlebens hart gearbeitet und wusste, dass ihm diese ausgeprägte Arbeitsmoral den Weg durchs Leben geebnet hatte. Bernie besaß die gleiche Einstellung. Seamus hatte diese Eigenschaft offenbar von seinen Eltern geerbt, und Tom hoffte, dass ihm die Arbeit die gleiche Befriedigung bot, die er daraus zog.
Seamus hatte allen Grund, seinen Eltern mit Ablehnung, ja, sogar mit Hass zu begegnen. Tom hatte gesehen, wie Bernie seine Wange gemustert hatte, auf der Suche nach diesem gottverdammten Kratzer. Er hatte ihr schon damals klarzumachen versucht, dass es vermutlich nur eine winzige Hautabschürfung von ihrem Fingernagel war, nichts Ernstes. Wenn sie in der Zeit verschwunden war, die sie für ihren Traum von der ›Wunderheilung‹ brauchte, hatte es sich um eine Lappalie gehandelt.
Dieser verdammte Kratzer und Bernies Traum von ihrem Sohn in dem winzigen Boot. Moses, wie er leibt und lebt, hatte Tom damals gesagt. Herrgott noch mal, das bedeutete doch wohl nicht, dass sie ihn auf dem Meer aussetzen sollten.
Und nun, dreiundzwanzig Jahre später, war Bernie endlich ein Licht aufgegangen. Das Licht der Erkenntnis, getragen von der Liebe und nicht von der Religion. Schwester Eleanor Marie hatte ihr wahres Gesicht gezeigt, als sie die Dokumente versteckte, die mit Seamus’ Geburt und der Unterbringung in St. Augustine’s in Zusammenhang standen. Was dort vorgegangen war, um eine Adoption zu verhindern, konnte sich Tom nur vorstellen.
Bernie machte sich vermutlich ihre eigenen Gedanken. Er erinnerte sich, was Schwester Anastasia über Kathleen gesagt hatte, wie sehr ihr Sohn an dem Mädchen gehangen hatte, dass er um jeden Preis bei ihr bleiben wollte. Er kannte die Macht der Liebe und war überzeugt, dass sein Sohn trotz seiner jungen Jahre zu einem so großen Gefühl fähig war.
Doch er hoffte vor allem, dass Bernies Herz endlich für neue Möglichkeiten offen war. Vielleicht fühlte sie sich von Schwester Eleanor Marie verraten und in
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