Eine Frage des Herzens
zitternd, und sah ihn an, Tränen in den Augen. »Ich verstehe dich, Seamus. Wirklich, ich verstehe dich. Aber bitte, lass uns ein paar Minuten miteinander reden. Wir wollen nur mit dir reden …«
»Ihr versteht mich? Wie denn! Für mich existiert ihr nicht. Das habt ihr nie!«
»Hör zu, Seamus«, bat Tom mit versagender Stimme, und Bernie war wie gelähmt.
»Glaubt ihr etwa, ich brauche euch? Ich komme ganz gut alleine zurecht. Ich habe Pläne, die nichts mit euch zu tun haben. Ich will Rechtsanwalt werden, genau wie die Kellys. Und ein noch besserer! Ich habe mein eigenes Leben!«
»Das wissen wir«, sagte Bernie. »Ach Seamus …«
Doch Seamus hatte sich bereits umgedreht und eilte davon. Die Sohlen seiner Schuhe klapperten auf dem Gehsteig, als er die Straße entlangrannte, um die Ecke bog und ihrer Sicht entschwand, während Bernie und Tom dastanden, mit gebrochenen Herzen und so vielen Dingen, die sie ihm noch sagen wollten.
12
A m nächsten Morgen, auf dem Weg zur Sechs-Uhr-Messe in St. Malachy, sah Bernie die Welt mit anderen Augen. Das Wetter mochte grau und regnerisch sein, aber Dublin war in Licht getaucht. Jeder Stein, jeder Ziegel, jedes Gebäude, jeder Kirchturm wirkte wie neu – strahlend, leuchtend, glühend vor Hoffnung –, weil sie ihren Sohn gefunden hatten. Es regnete ohne Unterlass, die Tropfen prallten von ihrem Regenschirm ab.
Als sie in der Kirche niederkniete, wusste sie, dass sie nie zuvor etwas Ähnliches erlebt hatte – Freude, weil sie Seamus begegnet war, aber auch unsägliches Leid, weil sie seine Wut und Zurückweisung spürte und sich schmerzlich an den Anfang erinnerte. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen, während Schockwellen ihren Körper ergriffen. Noch jetzt, zwölf Stunden nach dem Zusammentreffen, sah sie ihn so deutlich vor sich, als stünde er unmittelbar vor ihr.
Sein Blick hatte ihr einiges über den Mann verraten, zu dem er herangewachsen war – groß, stark, aufrichtig –, und sie sah ihn wieder vor sich, wie er damals gewesen war, als Baby, vor zwei Jahrzehnten und einem Wimpernschlag. Der Gedanke, dass er beim letzten Mal, als sie ihn im Arm gehalten hatte, wenig mehr als dreieinhalb Kilo wog, war überwältigend.
Sie hatte ihn nach der Geburt im Arm gehalten. Er war zu früh auf die Welt gekommen, aber kerngesund. Die Schwestern im Krankenhaus staunten über seine Größe. Er hatte wie am Spieß geschrien, und sie hatte ihn gefüttert und ihm zugeflüstert, dass sie ihn liebe. Die Schwestern hatten sie mit ihm allein gelassen. Sie hatte ihn in ihrem Klinikbett an sich gepresst, sein Köpfchen umfasst, jeden Finger und Zeh berührt, ihn gewiegt.
Sie erinnerte sich, wie laut er geschrien hatte. Kaum zu glauben, dass ein solcher Winzling so viel Lärm machen konnte, und es war ihr durch und durch gegangen. Sie war überzeugt, dass er wusste, was ihn erwartete.
»Bestimmt merkt er, dass etwas nicht in Ordnung ist«, hatte sie zu der Krankenschwester gesagt, die Dienst hatte. »Er spürt, dass ich ihn weggeben werde …«
»Nein, er hat nur Hunger«, hatte die Schwester erwidert und ihr eine Flasche mit Säuglingsmilch gereicht. »Geben Sie ihm die, dann beruhigt er sich.«
Bernie hatte gewartet, bis sie den Raum verließ. Dann hatte sie ihr Nachthemd heruntergezogen und ihrem Sohn die Brust gegeben. Das Gefühl der Liebe, das sie dabei empfand, war unbeschreiblich, intensiver als alles, was sie jemals verspürt hatte. Sie hatte das Kind geboren, ihren und Toms Sohn, und nun stillte sie ihn. Es war, als würde jedes Quentchen Liebe, das sie in sich hatte, ihm zufließen, und in diesem Moment gelangte sie zu dem Schluss, dass sie ihn nicht weggeben konnte.
Als sie nun in der Kirche kniete und auf die Wandlung wartete, erinnerte sie sich, wie er sich in die Beuge ihres Armes geschmiegt hatte, die wie geschaffen für ihn war, wie er mit seinen winzigen Händen ihre Brust getätschelt hatte, mit geschlossenen Augen und seliger Miene, satt und zufrieden. Sie fühlte sich eins mit ihrem Baby – Tom, ihr Sohn und sie würden eine Familie gründen. Sie konnten in Irland bleiben oder nach Connecticut zurückkehren. Es war egal, wo sie lebten, solange sie zusammen waren.
In jenem Augenblick hatte sie ihren Entschluss gefasst – das gestand sie sich nun insgeheim ein. Es spielte keine Rolle, dass sie die Papiere bereits unterschrieben und sich einverstanden erklärt hatte, ihn zur Adoption freizugeben. Tom liebte sie, wollte sie heiraten und
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