Eine Frage des Herzens
hatte sie angefleht, ihre Entscheidung rückgängig zu machen.
Nun, in der Mitte der Messe, erhoben sich alle von ihren Plätzen. Sie stimmten das Vaterunser an, und Bernie betete laut mit. Ihr Blick fiel auf eine Statue der Jungfrau Maria, und ihr Herz begann zu klopfen. Sie erinnerte sich, wie Schwester Eleanor Marie sie im Krankenhaus aufgesucht hatte. Sie hatte das Baby auf den Arm genommen und versprochen, ein gutes Zuhause für den Jungen zu finden.
»Ich habe meine Meinung geändert«, hatte Bernie gesagt und die hochgewachsene, strenge Nonne angesehen.
»Was soll das heißen?«
»Schwester, meine Entscheidung war falsch. Ich kann dem Orden nicht beitreten …«
»Aber der Prozess ist bereits in vollem Gang«, hatte Schwester Eleanor Marie erwidert. »Du bist als Novizin angenommen worden. Auf dich wartet ein Platz in unseren Reihen. Und was den Kleinen angeht, auf ihn wartet eine gute katholische Familie, die ihn adoptiert. Das willst du doch gewiss nicht vereiteln, oder? Ihm die Chance verbauen, in einer richtigen Familie aufzuwachsen, bei einem verheirateten Paar, das ihm alles bieten kann, was er braucht.«
»Ich weiß. Ich fühle mich schrecklich, weil ich den Leuten Hoffnung gemacht habe. Aber ich konnte ja nicht wissen, was ich für ihn empfinde. Ich liebe ihn über alle Maßen, Schwester. Ich hatte keine Ahnung, dass man so viel Liebe für jemanden empfinden kann – für Tom, ja, aber diese Gefühle sind anders.«
»Die Hormone spielen verrückt, das ist ganz normal nach der Geburt«, hatte Schwester Eleanor Marie erklärt. »Ist es wahr, was die Schwestern mir berichtet haben, dass du ihn stillst?«
Bernie nickte und begriff nicht, warum die Frage der Nonne Schuldgefühle in ihr auslöste. Sie spürte, wie sie errötete, und konnte dem Blick von Schwester Eleanor Marie kaum standhalten.
»Das war töricht, Bernadette. Und es ist gegen die Vorschriften, die dem Schutz von Mutter und Kind dienen. Mit deinem eigenmächtigen Verhalten hast du eine Bindung geschaffen, die euch beiden schadet.«
»Wie kann sie uns beiden schaden? Ich bin seine Mutter«, flüsterte Bernie.
»Hör auf, in solchen Begriffen zu denken. Du hast ihn zur Welt gebracht, doch nun ist es an der Zeit, das Richtige zu tun, dein Versprechen zu halten.«
»Schwester, bitte geben Sie ihn mir.« Bernie streckte die Arme nach ihrem Sohn aus.
Doch Schwester Eleanor Marie hatte ihn mit beiden Armen an sich gepresst, ihn mit den schwarzen Ärmeln ihres Habits umfangen und Bernie über seinen Kopf hinweg mit kalten, zornigen Augen angesehen. »Für die Muttergottes ist das ein Schlag ins Gesicht, das ist dir hoffentlich klar.«
»Wie bitte?« Bernie erschrak. Sie hatte an Maria und Jesus gedacht – zum ersten Mal glaubte sie wirklich ermessen zu können, wie das Leben der beiden verlaufen war, hatte die Tiefe der Liebe und Bindung zwischen Mutter und Sohn nachempfinden können.
»Sie ist dir erschienen, hat dich auserwählt unter all den Menschen auf dieser Erde. Bevor du nach Irland kamst, bevor du deinen Leib befleckt hast. Die Muttergottes ist von ihrem Sockel herabgestiegen, um deine Tränen zu trocknen. Sie hat dir das Zeichen gegeben, um das du gebetet hattest – sie wollte, dass du ins Kloster gehst, dem Orden Notre Dame des Victoires beitrittst.«
»Notre Dame«, murmelte Bernie. »Die Muttergottes …«
»Aber du bist ihrem Ruf nicht gefolgt, bist mit diesem Mann nach Irland gereist und hast dich ihm anheimgegeben statt Gott. Jetzt hast du eine letzte Chance, deinen Fehler wiedergutzumachen.«
»Was soll das heißen?«
»Maria ist dir aus einem bestimmten Grund erschienen.«
»Aber Schwester …« Bernie streckte erneut die Hände nach ihrem Sohn aus; sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers danach, ihn zu halten. »Da hatte ich mein Baby noch nicht. Ich ahnte ja nicht, was für ein Gefühl das ist. Sie würde nicht wollen, dass ich ihn aufgebe. Das kann sie nicht wollen.«
»Das will sie sehr wohl«, entgegnete Schwester Eleanor Marie kühl. »Hat sie dir das nicht gesagt?«
»Ich weiß nicht, was sie mit ihren Worten meinte.« Bernie war verwirrt, kam sich verloren vor in einem Labyrinth der Gefühle, war benommen vom Schmerz der Wehen, der Geburt und dem Wissen um die unerbittlich tickende Uhr. Morgen sollte sie entlassen werden und Abschied von ihrem Sohn nehmen.
»Du weißt es nicht, weil du es nicht mehr wissen willst«, sagte Schwester Eleanor Marie. »Bernadette, als gläubige Katholikin
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