Eine Frage des Herzens
nicht scheint, bin ich gerne draußen. Schnee, Hagel, ich nehme es, wie es gerade kommt.«
»Aha, Sie kümmern sich also um die Pflege Ihrer Ländereien.« Seamus versuchte nicht im Geringsten, seinen Spott zu verbergen.
Tom schüttelte den Kopf. »Ich besitze keine Ländereien.«
»Aber Sie sagten doch gerade …«
»Ich habe auf das Familienvermögen der Kellys verzichtet. Es bedeutet mir nichts. Imposante Häuser, Luxuskarossen wie der Mercedes, den du fährst – das interessiert mich alles nicht. Ich habe eine große Verwandtschaft, die sich freut, meinen Anteil zu bekommen. Weißt du, wohin ich gerne gehe, wenn ich in Dublin bin?«
»Ins Greencastle?« Ein weiterer Seitenhieb.
Tom schüttelte erneut den Kopf. »Nichts dergleichen. Zum Rutland Fountain.«
»Am Merrion Square? Dort wohnen die Kellys – in den georgianischen Häusern an der Nordseite des Platzes. Ich weiß es, weil ich Leute zu Abendeinladungen oder Geschäftsbesprechungen hingefahren habe.«
»Stimmt, sie wohnen dort. Sie machen sich über mich lustig, weil mir der Rutland Fountain so wichtig ist. Kennst du die Geschichte des Springbrunnens, Seamus?«
»Natürlich. Ich mache mit den Hotelgästen Besichtigungstouren durch Dublin.«
»Dann sag mir doch mal, was du deinen Fahrgästen erzählst.« Toms Stimme hatte einen drohenden Unterton, als würde er kein Nein als Entgegnung gelten lassen. Seamus erinnerte sich an das Krachen der Tür, als sich Tom den Eintritt erzwungen hatte, und seine Gedanken rasten. Er hasste es, wenn man ihn in die Ecke drängte und zwang, wie ein dressierter Affe Kunststücke vorzuführen. Andererseits hatte er keine Lust, sich mit jemandem anzulegen, der so in Rage war.
»Ich erzähle ihnen, dass der Merrion Square nicht immer ein solches Schmuckstück war, sondern früher eine schreckliche Funktion hatte – während der Großen Hungersnot befand sich dort eine Suppenküche. Überall in Irland hungerten die Menschen, starben wie die Fliegen. Das Leiden war unermesslich. So sah es damals am Merrion Square aus – kein Ort, an dem Leute wie die Kellys ein Leben in Saus und Braus führten.«
»Und Rutland Fountain?«
Seamus war verwirrt. Tom stellte ihn offenbar auf die Probe, und das missfiel ihm. Er spürte, wie tief in seinem Inneren Groll aufstieg. »Das war vor der Großen Hungersnot. Der Brunnen wurde 1791 errichtet, für die Armen von Dublin.«
Tom nickte. »Deshalb gehe ich bei jedem Irlandbesuch dorthin. Er erinnert mich an etwas.«
»Woran könnte er jemanden wie Sie erinnern? Sie sagten doch gerade, dass Sie Eliteschulen besucht haben und in einem Herrenhaus aufgewachsen sind.«
»Er erinnert mich an Wasser«, erwiderte Tom ruhig, als hätte ihn jegliche Streitlust mit einem Schlag verlassen.
»Wasser. Aha.«
»Menschen brauchen Wasser, um zu überleben. Es stillt den größten Durst, und man muss nicht reich sein, um in den Genuss zu kommen. Es gibt nichts Besseres als kaltes Wasser …«
Seamus starrte ihn an. Genau das hatte Kathleen früher oft zu ihm gesagt. Er hatte nach dem Abendessen im Heim das Geschirr abgewaschen – Stapel verkrusteter Pfannen, schmutzige Teller und schmierige Gläser. Wenn er Durst und die Arme bis zu den Ellbogen im schaumigen Spülwasser hatte, hatte sie ein Glas mit frischem Wasser für ihn gefüllt und an seine Lippen gehalten. Er spürte noch heute den Druck ihrer Hand, mit der sie seinen Kopf umfangen hatte, während sie mit der anderen das Glas schräg hielt, damit er trinken konnte.
»Wie nett, die Armen zu verklären, wenn man selber nicht zu ihnen gehört. Sie benötigen eine Menge Wasser für Ihre Gärten, oder? Ach ja, richtig, Sie sagten ja, Sie besäßen keine Ländereien.«
»Du hast trotzdem recht. Ich verbrauche viel Wasser – für die Bewässerung der Gartenanlagen, Rasenflächen und den Weingarten. Auf einem riesigen Anwesen in Connecticut, an der Stelle, wo der Fluss in den Sund mündet. Es befand sich früher im Besitz deines Ururgroßvaters, Seamus, Francis X. Kelly.«
»Seien Sie still!« Seamus wich zurück. »Er ist nicht mein Urur … egal, was. Warum erzählen Sie mir das? Ich will es nicht wissen.«
»Der Name des Anwesens ist Star of the Sea Academy. Francis X. vermachte die Ländereien und Gebäude dem Orden Notre Dame des Victoires …«
Seamus horchte auf. Die Nonnen, die ihn großgezogen hatten. Doch er starrte Tom mit aller Feindseligkeit an, die er aufzubieten vermochte. Tom reagierte nicht auf den
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