Eine Frage des Herzens
über Engel erzählen? Über die Frau mit der Vision? Für die Sie angeblich alles aufgegeben haben? Kathleen ist mehr als das für mich. Doch das könnten Sie nie verstehen.«
»Und ob ich das kann, zum Teufel. Es gibt einen Menschen, den ich auf die gleiche Weise liebe.«
»Die Liebe kann aber nicht so groß sein wie bei Kathleen und mir«, entgegnete Seamus hartnäckig.
»Größer«, erwiderte Tom.
Jetzt reichte es. Seamus spürte eine unbändige Wut in sich aufsteigen, wie heiße Lava. Er stieß Tom mit voller Wucht gegen die Wand. Wie konnte er es wagen zu behaupten, seine Liebe sei größer als die Liebe zwischen Kathleen und ihm?
»Sie haben doch überhaupt keine Ahnung, was Liebe ist!«, brüllte Seamus und versetzte Tom einen Fausthieb ins Gesicht. Ein Blutschwall schoss aus seiner Nase und ergoss sich auf das Tweedjackett. Tom war entschlossen, sich nicht auf einen Kampf einzulassen, aber Seamus wollte ihm offenbar keine andere Wahl lassen. Er holte wieder und wieder zum Schlag aus. »Sie bedeutet mir alles! Die Liebe, die uns verbindet, ist Ihnen völlig fremd!« Seamus’ Faust traf ein weiteres Mal, Knochen prallte auf Knochen. Tom versuchte ihn mit ausgestreckten Armen auf Abstand zu halten, das zerschundene Gesicht zur Grimasse verzogen.
»Sie ist mir nicht fremd, ich empfinde das Gleiche für deine Mutter.« Tom duckte sich, als Seamus auf ihn eindrosch.
»Sie lügen, Sie machen sich selbst etwas vor.« Seamus stieß Tom erneut gegen die Wand. »Wenn Sie sie geliebt hätten, hätten Sie sie geheiratet. Und hätten mich behalten! Verdammter Mistkerl, behaupten Sie nie wieder, Sie würden sie so lieben wie ich Kathleen!«
»Seamus.« Tom gelang es, dem nächsten Schlag auszuweichen, und Seamus’ Faust krachte mit voller Wucht gegen die Wand, so dass der Putz abbröckelte.
»Erzählen Sie mir nicht, was Liebe ist«, brüllte Seamus. Seine Hand sah aus, als wäre sie gebrochen, doch das war ihm egal. Er holte abermals aus. »Zuerst behaupten Sie, die Frau mit der Vision zu lieben, und jetzt heißt es, Sie lieben meine Mutter, Sie verdammter Mistkerl!« Er bot seine ganze Kraft auf, um Tom ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen, doch Tom fing den Schlag ab und versetzte ihm einen Boxhieb. Seamus wankte und begann zu würgen.
»Die beiden Frauen sind ein und dieselbe Person«, keuchte Tom, fing Seamus in seinen Armen auf und drückte ihn an sich. Blut lief aus seiner Nase und von Seamus’ Knöcheln.
»Was sagen Sie da?« Ihm schwindelte.
»Deine Mutter.« Tom hielt ihn fest. Tränen vermischten sich mit dem Blut auf seinem Gesicht. »Ich habe sie geliebt, seit ich denken kann. Sie war die Frau mit der Vision. Sie ist Nonne, Seamus.«
»Nein … Ich habe sie doch gesehen … Bernadette Sullivan.«
»Schwester Bernadette. Schwester Bernadette Ignatius.«
»Das versteh ich nicht.« Seamus zitterte am ganzen Körper.
»Sie trat ins Kloster ein. Darum ging es in der Vision – sie musste ihre Wahl treffen. Ich habe sie gewähren lassen, Seamus. Das wollte ich damit sagen – ich habe nicht hart genug um sie gekämpft. Als du zur Welt gekommen bist, stand ihr Entschluss bereits fest.«
»Sie wurde Nonne? Meine Mutter?«
Tom nickte. Er ging zum Spülbecken und ließ kaltes Wasser über ein Geschirrtuch laufen. Dann ging er zum Tiefkühlschrank und füllte es mit Eiswürfeln. Als er sie gegen Seamus’ Schläfe presste, sah er ihm in die Augen. Er erschrak; sie waren blau, von der gleichen Farbe und Eindringlichkeit, die er morgens im Spiegel wahrnahm, wenn er sich rasierte.
»Ich wollte dir nicht weh tun«, sagte Tom. »Aber du hast einen höllischen Schlag. Ich dachte, du würdest mich umbringen.«
»Die Pferde sind mit mir durchgegangen«, murmelte Seamus.
»O nein!« Toms Blick war auf Kathleens Postkarte gefallen. Überall waren Blutspritzer. Seamus griff danach und begann sie abzuwischen. Das Handgemenge, die Neuigkeit, dass seine Mutter eine Nonne war und Kathleen sich in Amerika aufhielt – das alles setzte ihm nicht so zu wie der Anblick der Blutstropfen, die Kathleens Worte verwischten. Verzweifelt senkte er den Kopf, damit Tom seine Tränen nicht bemerkte.
»Seamus«, sagte Tom, die Hand auf seiner Schulter, »es tut mir leid.«
»Das ist alles, was ich von ihr habe«, erwiderte Seamus mit tränenerstickter Stimme.
»Das stimmt nicht. Du hast gerade gesagt, dass du sie liebst. Ich kenne niemanden, der so tief mit einem anderen Menschen verbunden ist.«
Seamus hielt
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