Eine Frage des Herzens
das Foto mit einer Reißzwecke an der Wand befestigt hatte. Er fuhr mit dem Daumen über die Einstichstelle.
»Warum hat sie es Ihnen überlassen?«
»Ich wollte wissen, wie Kathleen aussieht, weil sie dir so wichtig ist.«
»Nun, sie ist spurlos verschwunden«, sagte Seamus barsch. »Ich habe sie aus den Augen verloren. Es spielt also keine Rolle mehr.«
»Schwester Anastasia hat mir noch etwas für dich gegeben.« Tom griff abermals in seine Tasche und zog eine Postkarte heraus. Er reichte sie Seamus, der instinktiv wusste, von wem sie stammte, noch bevor er sie entgegennahm. Es war, als ginge ein elektrischer Schlag durch seinen Körper, als er die Postkarte in der Hand hielt, die Kathleen berührt, geschrieben und abgeschickt hatte.
Auf der Vorderseite befand sich eine Luftaufnahme von einer Küste – hohe Wellen brandeten gegen schroffe Felsen, und eine Reihe imposanter Herrenhäuser ragte über einem zerklüfteten Pfad auf, der hoch droben entlang einer Kaimauer verlief.
Cliff Walk, Newport, Rhode Island
war oben in weißer Schrift über einem strahlend blauen Himmel zu lesen.
Seamus versuchte das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Er drehte die Karte um, und richtig, das war ihre Handschrift. Eine winzige Schrift, bemüht, so viele Worte wie möglich auf der Karte unterzubringen. Er strich mit dem Daumen über ihren Namen und merkte, wie die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen, so dass es ihm schwerfiel, den Text zu lesen.
Liebe Schwester Anastasia,
hier lebe ich jetzt, bei einer Familie, in einem Haus wie abgebildet. Ich bin Köchin! Wer hätte gedacht, dass sich all die Jahre in der Küche von St. A. irgendwann bezahlt machen? Ich liebe meine Arbeit, war nie glücklicher. Wie Sie vielleicht erfahren haben, bin ich mit meinen Eltern nach Amerika ausgewandert und geblieben. Ich denke oft an Sie und die Schwestern. Und an James. Hören Sie ab und zu etwas von ihm? Wenn ja, würden Sie ihm bitte herzliche Grüße ausrichten?
Alles Liebe und Gottes Segen
Kathleen Murphy
Seamus las die Worte immer wieder. Er hatte sich Kathleen seit zehn Jahren nicht mehr so nahe gefühlt. In der Abbildung auf der Postkarte, in ihren Worten und in der Erwähnung ihrer Eltern steckten viele verschlüsselte Informationen. Seamus wünschte sich nichts sehnlicher, als alleine zu sein. Er hätte Tom Kelly am liebsten rausgeworfen, sich in seinen Sessel gesetzt und sich in Kathleens Postkarte vertieft.
»Sie hat sich nach dir erkundigt«, sagte Tom.
Seamus starrte die Schrift an. Es war ihm egal, dass Tom sich die Mühe gemacht hatte, ihm die Karte zu bringen. Er wollte nur noch eines, ihn zum Schweigen bringen, ihn verdammt noch mal loswerden, um Kathleens Präsenz bis ins Mark spüren zu können.
»Sie kennt dich nicht unter dem Namen Seamus. Sie weiß nicht, wo du lebst, wo du arbeitest.«
»Richtig«, erwiderte Seamus bissig. »Und ich weiß nicht, wo sie lebt und arbeitet. Außer, dass sie sich an einem Ort namens Newport, Rhode Island, befindet, und das ist weit, weit weg.«
»Nur eine Flugreise entfernt.«
Seamus musterte ihn mit funkelnden Augen. Er würde Tom nicht die Genugtuung gönnen, sich anmerken zu lassen, dass er noch nie geflogen war, ja, nicht einmal einen Reisepass besaß.
»Sie nennt dich James. Offensichtlich hat sie keine Ahnung, dass du jetzt Seamus genannt wirst. Macht dir das nichts aus?«
»Herrgott, sie kennt mich.« Seamus warf ihm einen wütenden Blick zu. »Namen spielen bei uns keine Rolle. Sie haben offenbar keinen blassen Schimmer, was wir durchgemacht haben. Was uns verbindet, geht über Namen, Worte, Postkarten und Fotos hinaus.«
»Verbindungen brechen manchmal ab«, erwiderte Tom schroff. »Lass dir das gesagt sein. Ungeachtet dessen, wie eng sie nach deinem Dafürhalten sind. Wenn du sie nicht pflegst, gehen sie irgendwann verloren.«
»Was wissen Sie denn darüber?
Sie
sind doch derjenige, der die Verbindungen zu Menschen abzubrechen pflegt. Wo ist denn die Frau mit der Vision? Sie haben Ihr Vermögen für sie geopfert, und was ist daraus geworden? Und was ist mit Ihrer Familie? Den Kellys? Interessieren Sie sich nicht dafür, was ihnen wichtig ist? Und was ist mit mir?«
»Seamus, deshalb bin ich hier.« Toms Stimme zitterte. »Deinetwegen. Weil ich nicht möchte, dass du den gleichen Fehler machst wie ich. Kämpf um deine Liebe, Seamus. Kämpf um Kathleen.«
»Ich muss nicht um sie kämpfen! Ich habe sie im Herzen. Wir haben einander. Sie wollen mir etwas
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