Eine Frage des Herzens
denselben erschrockenen Ausdruck wie in seinen eigenen. Er hätte gerne gewusst, wie sie jetzt aussah, wo sie lebte. Hatte sie noch ihre langen, dunklen Haare? Gab es jemand anderen, der sie ihr flocht?
Als es an der Tür klopfte, hob Seamus den Blick. Wer mochte das sein? Kevin nicht, so viel war gewiss. Es war schon spät und seine Schicht vorbei. Er musste längst zu Hause sein, duschen, sich umziehen und sich auf den Weg machen, um Eily zum Konzert von Randi-Lu O’Byrne abzuholen.
Seamus ließ die Fotos auf dem Bett liegen und durchquerte den Raum. Seine Apartment war so klein, dass er dazu nur wenige Schritte brauchte. Was war, wenn sein Chef aus dem Greencastle vor der Tür stand, um zu überprüfen, ob er wirklich krank war? Er würde es darauf ankommen lassen müssen und öffnete die Tür.
Tom Kelly stand auf der Schwelle.
Seamus wich fassungslos zurück.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.«
»Und wer hat Ihnen gesagt, wo ich wohne?«, fragte Seamus feindselig.
»Ich bin ein Kelly, falls du das vergessen hast. Ich habe meine Beziehungen spielen lassen.«
Seamus musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Er wusste, dass die Kellys mächtig waren. Sie waren Teil einer Welt, die sein Vorstellungsvermögen überstieg. Er fuhr häufig Leute wie Sixtus Kelly. Er stellte sich taub, bekam aber ganz genau mit, was auf dem Rücksitz vor sich ging. Er hatte alles Mögliche zu hören bekommen, Staatsgeheimnisse, finstere Machenschaften, die Einzelheiten gefährlicher Liebschaften. Er wusste, dass solche Leute Zugang zu allem hatten, was ihr Herz begehrte – Detektive, Agenten, alles außer Zauberern.
»Aha, Sie haben also jemanden bezahlt, um mich aufzuspüren.«
»Es spielt keine Rolle, wie ich es bewerkstelligt habe. Darf ich hereinkommen?«
Seamus machte Anstalten, ihm die Tür vor der Nase zuzuknallen, doch Toms Hand schoss blitzschnell vor und fing die volle Wucht des Schlages ab. Es krachte, aber er verzog keine Miene, obwohl Handfläche und Handgelenk höllisch schmerzen mussten.
Tom trat unaufgefordert ein und schloss leise die Tür hinter sich. Seamus blickte ihn zornig an, sein Herz klopfte. Er hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt. Wie kam dieser Mann dazu, in sein Apartment einzudringen! Doch der Ausdruck in seinen Augen hielt ihn zurück, eine Mischung aus Traurigkeit und Resignation, die er gestern nicht bemerkt hatte. Als wäre Tom Kelly über Nacht gealtert.
»Reiche Leute wie die Kellys erledigen die Dinge offenbar auf ihre eigene Weise«, sagte Seamus sarkastisch. »Sie machen, was sie wollen. Und kommen immer ans Ziel.«
»So ist es.«
Seamus deutete auf Toms Tweedjackett. Es sah alt und ziemlich verschlissen aus, als wäre es häufig draußen im Regen getragen worden. Aufschläge und Taschen waren ausgefranst, die Schultern nach unten gesackt, die Ellbogen mit Flicken verstärkt. Es glich den schäbigen Kleidungsstücken, die Seamus auf den Schulfotos trug.
»Wieso laufen Sie so herum, wenn Sie so reich sind?«, fragte Seamus.
»Wer hat behauptet, dass ich reich bin?«
»Sie sind ein Kelly. Sie sagten doch gerade …«
»Tu mir einen Gefallen, Seamus. Zieh keine voreiligen Schlüsse, was meine Person betrifft, dann halte ich es mit dir genauso. Meine Cousins sind reich, ich nicht.«
Seamus war sprachlos. Ihm war, als hätte man ihm eine Ohrfeige versetzt. Toms Augen wirkten hart und zugleich verletzt. Sie erinnerten an die Jugendlichen von St. Augustine’s, die wie er selbst am längsten dort waren und am meisten durchgemacht hatten. War Tom in einer ähnlichen Institution aufgewachsen?
»Haben Sie Ihre Kindheit in einem Heim verbracht?«, hörte sich Seamus plötzlich zu seiner eigenen Überraschung fragen.
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin in einem großen Haus aufgewachsen. Einem Herrenhaus, genauer gesagt. Mit viel Land, Dienstboten, großen Autos. Ich habe die besten und teuersten Schulen in Connecticut besucht. Ich hätte in Yale studieren können, wenn ich mir mehr Mühe gegeben hätte. Meine Familie gehörte zu den Förderern der Universität, sie hat ihr ein Wissenschaftsgebäude und eine Sporthalle gestiftet. Aber ich habe ihnen die Tour vermasselt.«
»Weil Sie keine Lust hatten, hart zu arbeiten?«
»Ich habe hart gearbeitet, aber nicht in der Schule. Ich liebe die Natur. Erde, Felsen, Bäume, Gärten. So in der Art. Mir gefällt es, bei Wind und Wetter an der frischen Luft zu sein. Auch wenn die Sonne
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