Eine Frage des Herzens
sind so ein guter Mensch, Schwester Bernadette Ignatius.«
»Was erwarten Sie von mir?«
»Dass Sie ihr verzeihen. Ich werde unserer Generaloberin Bericht erstatten. Noch heute. Schwester Bernadette, für Schwester Eleanor Marie wird eine Welt zusammenbrechen, obwohl ich aus Liebe handle. Ich kann nicht mit der Schuld leben, die ich auf mich geladen habe, und ich glaube, sie kann es auch nicht.«
»Der Gedanke an das, was sie getan hat, quält sie?«
Schwester Theodore nickte tränenüberströmt. »Es verfolgt sie Tag und Nacht. Bestimmt wollte sie deshalb verhindern, dass Sie Seamus finden. Die Schuldgefühle haben sie innerlich aufgerieben. Sie hat die Unterlagen versteckt, weil sie es nicht ertragen konnte, dass Sie erfahren, was wir ihm angetan haben. Oder Kathleen …«
»Wo ist Kathleen jetzt?« Sie erinnerte sich an die Postkarte aus Amerika, die Schwester Anastasia Tom gegeben hatte. Hatte sich darauf ein Hinweis auf die Adresse befunden?
Schwester Theodore schüttelte den Kopf. »Kathleen Murphys Werdegang im Auge zu behalten war zweitrangig, es ging vor allem um Thomas James Sullivan. Es tut mir leid, Schwester Bernadette. Bitte verzeihen Sie uns.«
»Es ist nicht an mir zu verzeihen, sondern an ihnen«, flüsterte Bernie, den Blick auf den Innenhof gerichtet, auf die verlassenen Kinder, die im Schatten von St. Augustine’s spielten. Sie stellte sich vor, wie Seamus und Kathleen durch dick und dünn miteinander gegangen waren. Und wie sich die Trennung auf die beiden ausgewirkt hatte. Sie dachte an Seamus’ Blick und die Worte in seinem Brief, in denen sich die gleiche Wut Bahn brach.
»An ihnen?«, sagte Schwester Theodore.
»An meinem Sohn und Kathleen. Es ist an ihnen zu verzeihen. Uns allen.«
15
A n dem Tag, nachdem das Paar aufgetaucht war, meldete sich Seamus krank, was er noch nie gemacht hatte. Er genoss einen tadellosen Ruf im Greencastle, niemand würde ihn verdächtigen, sich vor der Arbeit zu drücken. Er galt als vertrauenswürdiger Mitarbeiter, als aufrichtiger Mensch. Seine Vorgesetzten wären mit Sicherheit schockiert, wenn sie wüssten, dass er vollkommen gesund war und sich lediglich auf Tauchstation befand. Kevin, sein bester Freund, hatte ihn mitfühlend angesehen, als er vorbeigekommen war, um den Brief abzuholen.
Das Paar hatte ihn dazu gezwungen – Seamus weigerte sich, sie als seine Eltern zu bezeichnen. Wie hießen sie gleich wieder? Ach ja, Thomas Kelly und Bernadette Sullivan. Daher stammte also sein Nachname. Sie waren offenbar nicht verheiratet. Er war unehelich geboren. Doch wen interessierte das schon, und was für eine Rolle spielte das? Ob verheiratet oder nicht, sie hatten ihn nicht gewollt.
Er war inzwischen erwachsen, führte sein eigenes Leben und kam gut zurecht. Warum zerbrach er sich überhaupt deswegen den Kopf? Sie waren gekommen, um ihn kennenzulernen – na toll! Er hatte die Herausforderungen und Kümmernisse im St. Augustine’s längst hinter sich gelassen. Meistens fand er sogar, er habe es dort ziemlich gut gehabt im Vergleich zu anderen Institutionen.
Nein, was ihm einen Schock versetzt hatte, war seine Reaktion auf das Paar. Es war ähnlich, als würde man von einer Biene gestochen, ohne zu wissen, dass man allergisch ist. Man geht davon aus, dass der Stich ein wenig schmerzt, da es sich nur um ein Insekt handelt. Doch plötzlich tritt ein anaphylaktischer Schock ein, mit Schwellungen am ganzen Körper, akuter Atemnot und Schwindel. Es kommt zum Atem- und Kreislaufstillstand, und dann ist man tot.
Dieses Gefühl hatte Seamus, als er in seinem Armsessel saß und an die Begegnung mit dem Paar dachte. Im Lauf der Jahre – nicht so häufig wie andere Kinder in St. Augustine’s, aber öfter, als er sich eingestehen mochte – hatte er sich vorgestellt, was er tun würde, wenn jemand nach ihm suchte. Eine Frau, die erklärte, sie sei seine Mutter, ein Mann, der behauptete, sein Vater zu sein, oder beide zusammen.
Für diesen Fall hatte er sich eine Rede ausgedacht, die es in sich hatte. Einmal hatte er sogar davon geträumt, ihnen in hohem Bogen auf die Schuhe zu spucken. Ein gutes Gefühl. Er hatte auch überlegt, ob er ihnen die Klassenfotos zeigen sollte – alle bis zur achten Klasse. Auch wenn er fand, dass er lächerlich darauf aussah, wie ein zerrupfter Vogel. Zu knochig, zu groß, die Ärmel zu kurz oder zu lang, und die roten Haare standen büschelweise in alle Himmelsrichtungen.
Er hatte eine Schule besucht, in die sowohl
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