Eine Frage des Herzens
Kinder aus dem Heim als auch aus einem normalen Elternhaus gingen. Schon damals hatte er genau unterscheiden können, welche seiner Mitschüler eine Mutter hatten und welche nicht.
Mütter kämmten ihren Kindern die Haare. Sie achteten darauf, dass sie sich das Gesicht wuschen und keine Schlafkörnchen in den Augen hatten. Sie rückten ihnen an den Tagen, an denen Schulfotos gemacht wurden, die Krawatten oder Krägen der Schuluniform zurecht. Sie überprüften die Länge der Ärmel, und wenn sie aus einem T-Shirt herausgewachsen waren, hoben sie es für die jüngeren Geschwister auf und holten ein anderes aus dem Schrank.
Für die mutterlosen Mädchen war es noch schlimmer. Sie standen entweder ständig vor dem Spiegel oder gaben sich überhaupt keine Mühe mit ihrem Äußeren. Die älteren trugen manchmal eine extra dicke Schicht Make-up auf, als glaubten sie die Unsicherheit in ihrem Verhalten, ihrem Auftreten hinter einer Maske verbergen zu können.
Kathleen war das genaue Gegenteil gewesen. Sie besaß eine natürliche Schönheit, hatte keiner Schminke bedurft. Ihre Haut war rosig, und ihre dunklen Haare schimmerten wie Seide. Doch er hatte sie immer daran erinnern müssen, ihre Haare zu bürsten, den Pullover ohne das Loch im Ärmelaufschlag anzuziehen und Socken, deren Gummi nicht ausgeleiert war, die ihr nicht über die Schuhe rutschten.
Ja, er hatte sich oft ausgemalt, seinen sogenannten Eltern diese alten Schulfotos zu zeigen und sie darauf hinzuweisen, wie armselig er im Vergleich zu seinen Klassenkameraden ausgesehen hatte. Er holte sie nun heraus, aus der Schachtel unter seinem Bett, in der er wichtige Dinge aufbewahrte. An die Fotos heranzukommen war nicht leicht gewesen. Als er mit dreizehn aus dem St. Augustine’s ausgerissen war, konnte er sie logischerweise nicht mitnehmen.
Doch nach seiner Rückkehr im darauffolgenden Jahr, als er Kathleen gesucht und Schwester Anastasia ihn überredet hatte, noch eine Weile im Heim zu bleiben, hatte sie ihn unterstützt. Sie hatten sämtliche Jahrbücher der Schule durchforstet, die Bilder von Kathleen und ihm gefunden, Briefe an das Fotoatelier geschrieben, das sie gemacht hatte, und um Kopien gebeten. Die Fotos waren ursprünglich kostenlos – für jeden Schüler eines, der Preis war im Schulgeld enthalten –, doch die Kopien hatten Geld gekostet. Schwester Anastasia hatte es ausgelegt, und Seamus musste seine Schulden abarbeiten, indem er die Fenster in der Schule und im Konvent putzte, zusätzlich zu seinen regulären Pflichten.
Seamus fragte sich, was das Paar wohl von seinen Kinderbildern halten würde. Er breitete die Klassenfotos auf dem Bett aus und versuchte sie aus der Warte der beiden zu betrachten. Seine Augen sahen immer zu groß und zu wild darauf aus, als hätte das Blitzlicht sie geblendet. Tief in seinem Inneren erinnerte er sich jedoch, dass er sich damals vor allem gefürchtet, sich unsicher und aus dem Tritt gefühlt, sich ständig den Kopf zerbrochen hatte, wie es weitergehen sollte.
Er betrachtete Kathleen. Sie hatten gemeinsam die Grammar School besucht, aber in der sechsten Klasse wurden sie auf getrenntgeschlechtliche Schulen geschickt. Das war üblich in St. Augustine’s; doch als er sich jetzt die Fotos ansah, erinnerte er sich, wie qualvoll es gewesen war, den ganzen Tag voneinander getrennt zu sein. Und am Abend, nach Schulschluss, war er in den Jungen- und sie in den Mädchenflügel verbannt. Ihre Aufgabe bestand darin zu kochen, er war fürs Putzen zuständig. An manchen Tagen konnten sie nur vor Schulbeginn ein paar Worte miteinander wechseln, wenn sie zum Bus gingen, oder in der Küche, nach den Mahlzeiten, wenn sie sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte.
An manchen Tagen klemmte er ihr auf dem Weg zum Bus die widerspenstigen Haare hinter den Ohren fest. Oder sie gab ihm ein Papiertaschentuch, damit er noch schnell seine Schuhe putzen konnte. Am schönsten war es, wenn sie ihn morgens bat, ihr die Haare zu flechten. Sie blieben ein Stück hinter den anderen zurück, während er sich an den Strähnen ihrer langen, weichen Haare zu schaffen machte, die nach Shampoo dufteten, und am liebsten nie mehr aufgehört hätte.
Er warf einen Blick auf das Foto mit dem dicken Zopf, der ihr vorne über die Schulter hing, so lang, dass er das Schulemblem auf dem grünen Blazer beinahe unkenntlich machte. Er ließ seine Finger über ihr Gesicht gleiten, betrachtete ihre großen Augen und entdeckte darin
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