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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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jetzt?
    Nicht, wenn er wach ist.
    Und wenn er schläft?
    Ich hab dir doch gesagt, bei dem Fieber hält er kaum mal einen Moment die Klappe.
    Ich weiß nicht. Ist das nicht etwas …
    Wenn mir langweilig ist, dann fang ich an, ich zieh es ihm ein bisschen aus der … Und dann antwortet er auch schon.
    Im Schlaf?
    Na ja, es ist so, als ob er es halb versteht, aber nicht wirklich.
    Aber …
    Was?
    Ich weiß nicht, das ist doch wie Briefe lesen, die nicht für einen bestimmt sind, findest du nicht?
    Was soll ich machen? Mir die Ohren zuhalten? Und ehrlich gesagt …
    Ja?
    Wenn er wach ist, dann hasse ich ihn echt, so wie in der Schule. Aber wenn er schläft …
    Was dann?
    Weiß nicht.
    Also?
    Irgendwie ist er dann ein andrer Mensch …
    Wie anders? fragte Ora und spürte einen leicht stechenden Neid.
    Ich hab noch nie so jemanden getroffen.
    Aber das ist nicht fair, was du mit ihm machst, ereiferte sie sich wieder gegen ihn.
    Das ist doch fair, denn ich red ja auch mit ihm, wenn er so ist.
    Kapier ich nicht.
    Wir reden halt.
    Aber du hast gesagt, dass er nicht wirklich …
    Er redet so ins Blaue, und ich dann eben auch.
    Ach so.
    Ja.
    Und, erzählt er dir Geheimnisse?
    Bei ihm ist alles ein Geheimnis.
    Wieso?
    Ich hab dir doch gesagt, in der Klasse weiß man nichts über ihn.
    Er schweigt wirklich die ganze Zeit?
    Im Unterricht muss er was sagen, da schweigt er nicht. Wenn er gefragt wird, antwortet er. Er spricht zur Lehrerin wie ein Roboter, damit die Lehrerin sieht, was er von ihr hält. Aber sonst nichts – gar nichts. Verschlossen wie ein Bunker.
    Sonderbar, staunte Ora, so was hab ich im Leben noch nicht gehört.
    So ist der.
    Und er hat keinen, dem er …
    Keinen.
    Sie versuchte mit dem Blick das Dunkel zu spalten. Es war ihr, als würde die Luft im Zimmer immer dicker. Es zog sie nach dort. Zu ihm.
    Also, inzwischen weißt du über ihn Bescheid, sagte Ora.
    Nicht sehr angenehm, was?
    Und wenn er redet, was sagst du ihm dann?
    Dasselbe über mich.
    Ach so.
    Ja.
    Sie nickte zerstreut. Jetzt hatte sie den Eindruck, das Dunkel am Ende des Zimmers fange an zu pulsieren.
    Warte, schreckte sie auf, was hast du grad gesagt?
    Wann?
    Ich hab das noch nicht kapiert. Was genau erzählst du ihm?
    Sagen wir, er erzählt etwas über seine Eltern, ja? Über seinen Vater und das Militär und so?
    Ja …
    Dann erzähl ich ihm von meiner Mutter und meinem Vater, wie er uns verlassen hat und was ich von ihm noch weiß, solches Zeug …
    Ach so.
    Und du?
    Ich erzähl ihm alles, frei von der Leber weg. Dann sind wir quitt.
    Ora setzte sich anders hin und legte sich noch eine Decke über. Bei den letzten Sätzen hatte sie so eine leise Anspielung in seiner Stimme wahrgenommen, und in ihren Waden verkrampfte sich etwas.
    Gestern zum Beispiel, sagte Avram, als ich von dir zurückkam, gegen Morgen, da hat er auch so im Fieber geredet, er hat von einem Mädchen erzählt, das er auf der Straße gesehen hat, und er hat sich geniert, sie anzusprechen, weil er Angst hatte, sie würde ihn gar nicht beachten … Avram kicherte: Also hab ich ihm auch …
    Was hast du ihm auch?
    Keine Angst, der kriegt ja doch nichts mit.
    Moment, was hast du ihm erzählt?
    Was war.
    Wo?
    Na, was du und ich, was du mir so gesagt hast, von Ada …
    Was?
    Aber er hat doch geschlafen …
    Aber das hab ich dir erzählt! Das ist persönlich. Das sind meine Geheimnisse!
    Ja, aber er kriegt doch überhaupt nichts …
    Sag mal, bist du total durchgeknallt? Kannst du denn gar nichts für dich behalten? Noch nicht mal zwei Minuten?
    Nein.
    Nein?!
    Das ist die Wahrheit, Avram alberte herum, knackte mit den Fingern, das hab ich dir schon gestern sagen wollen: Erzähl mir keine Geheimnisse. Überhaupt, wenn es was gibt, was niemand erfahren soll, dann sag es mir lieber nicht.
    Sie sprang aus dem Bett, hatte die Krankheit vergessen, rannte im Zimmer auf und ab, lief angewidert von ihm weg, und auch von dem andern, der da schlief, den Kopf auf die Brust gesunken, und einen unerträglich starken Pulsschlag verbreitete.
    Ora, nein … Warte doch, hör mich an, als ich von dir zurückkam, war ich so …
    So was? schrie sie, ihre Schläfen platzten gleich.
    Ich, ich hatte keinen Platz … in meinem Körper, so sehr war ich …
    Aber ein Geheimnis! Ein Geheimnis! Das ist doch das Grundlegendste, nein?
    Ja, aber …
    Weißt du, was du bist?
    Was bin ich?
    Ora kam nahe, fuchtelte mit ausgestrecktem Finger über ihm herum, und er zuckte ein bisschen: Genau das hab ich die ganze Zeit

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