Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Straße, die zu ihrem Haus führt, sieht sie jetzt Menschen stehen. Einige haben den Hof betreten, andere stehen schon auf den Treppen zur Tür. Sie erwarten sie schweigend mit gesenktem Blick. Warten, dass sie zwischen ihnen hindurchgeht und ihr Haus betritt.
Damit man anfangen kann, diese Worte gehen ihr durch den Kopf.
Sprich zu mir, murmelt sie, erzähl mir von ihm.
Was soll ich dir sagen?
Was ist er für dich?
Sie nimmt den Geldbeutel aus seiner Hand und legt ihn zurück in den Rucksack. Aus irgendeinem Grund kann sie es nicht ertragen, dass das Bild so offen dem Licht ausgesetzt ist. Er wagt es nicht, ihr zu widersprechen, obwohl er es gern noch lange anschauen würde.
Ora …
Sag mir, was er für dich ist.
Avram spürt, er muss jetzt aufstehen und aus dem Schatten dieses merkwürdigen kleinen Kraters weggehen, weg von diesen kahlen grauen Steinen. Ihnen gegenüber liegt zwischen zwei gezackten Felsen ein Stückchen sonnenüberfluteter grüner Berg, aber sie beide sind im Schatten, zu sehr im Schatten.
Ich hör dich nicht, flüstert sie.
Erstmal, sagt Avram, erstmal ist er dein Kind. Das ist das Erste, was ich über ihn weiß, und das Erste, was ich von ihm denke.
Ja, flüstert sie.
So denke ich immer von ihm: dass er von dir ist, mit deinem Licht und deiner Güte, mit dem, was du ihm immer gegeben hast, dem ganzen Leben, so wie du es zu geben weißt, mit der Fülle, dem Überschwang deiner Liebe und deiner Großzügigkeit – immer –, und das wird ihn überall bewahren, auch dort.
Ja?
Ja. Ja. Avram nimmt seinen Blick von ihr und zieht ihren kraftlosen Körper an sich, er spürt, sie ist kalt, sie atmet kaum.
Sprich weiter, ich brauche das.
Und du lässt mich ihn zusammen mit dir halten, sagt er, das ist es, das ist es, was ich sehe, ja.
Ihr Gesicht entfernt sich immer mehr und wird schwächer, sie sieht aus, als schlafe sie in seinen Armen mit offenen Augen ein, und er möchte sie wecken und wiederbeleben, ihr Odem einhauchen, doch etwas in ihr, in ihrem plötzlich leeren Blick, ihrem aufgerissenen Mund … Das ist so, sagt Avram angestrengt, du versuchst, ihn mit dir zu einem Ort zu nehmen, ganz allein, aber er ist dir zu schwer, nicht wahr? Und er schläft auch die ganze Zeit, nicht wahr?
Ora nickt, versteht und versteht nicht, ihre Finger bewegen sich schwach und blind auf seinem Unterarm, reiben, ohne es zu merken, den Ärmel seines Hemds.
Er ist ein bisschen wie betäubt, murmelt Avram, ich weiß nicht, warum, ich versteh das nicht ganz, und dann kommst du zu mir und bittest mich, dir zu helfen.
Ja, flüstert sie.
Wir beide müssen ihn an einen Ort bringen, sagt Avram, ich weiß nicht, wohin, ich verstehe auch nicht, warum. Wir halten ihn zwischenuns, die ganze Zeit. Als ob er es braucht, dass wir ihn beide dorthin bringen, das ist es.
Ja.
Nur wir beide können ihn dorthin bringen.
Wohin?
Ich weiß nicht.
Was ist dieses Dort?
Ich weiß nicht.
Ist es dort gut? fragt Ora verzweifelt, ist es dort gut?
Das weiß ich nicht.
Was ist das? Was erzählst du mir da? Ist das dein Traum? Hast du von ihm geträumt?
Das ist, was ich sehe, sagt Avram hilflos.
Aber was ist das?
Wir beide halten ihn.
Ja?
Er geht zwischen uns.
Ja, das ist gut.
Aber er schläft, seine Augen sind geschlossen, einen Arm hat er um dich gelegt, den andern um mich.
Ich versteh nicht.
Plötzlich schreckt Avram auf: Komm, Ora, wir müssen hier weg.
Das ist nicht gut, ächzt sie, er muss wach sein, die ganze Zeit. Warum schläft er?
Nein, er schläft, sein Kopf liegt auf deiner Schulter.
Aber warum schläft er? schreit Ora und ihre Stimme überschlägt sich.
Avram schließt die Augen, um das Bild loszuwerden. Als er sie wieder öffnet, starrt Ora ihn entsetzt an: Vielleicht haben wir es überhaupt falsch gemacht, sagt sie, vielleicht haben wir gar nichts begriffen, von Anfang an nicht. Das ganze Wandern, dieser ganze Weg, den wir gemacht haben …
Das stimmt nicht, sagt Avram erschrocken, sag so was nicht, wir gehen und reden über ihn …
Vielleicht ist alles gerade andersrum, als ich dachte, sagt sie fassungslos.
Andersrum?
Ihre Hände öffnen sich langsam. Ich dachte, wenn wir beide über ihn reden, wenn wir die ganze Zeit über ihn reden, dann beschützen wir ihn damit, zusammen, nicht wahr?
Ja, so ist es, Ora, du wirst sehen, dass …
Aber vielleicht ist es gerade umgekehrt?
Was, flüstert er, was heißt umgekehrt?
Ihr Körper flattert auf ihn zu, sie klammert sich fest an seinen Arm: Ich
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