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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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von dir gedacht, das hängt nämlich alles zusammen!
    Was, was hängt zusammen?
    Dass du in keiner Jugendbewegung bist und keinen Sport machst, und dein Rumphilosophieren dauernd, und dass du keine Kumpel hast, nicht wahr, du hast keine Kumpel!
    Aber wie hängt das zusammen?
    Hab ich’s doch gewusst! Und dass du, dass du so, so ein verdammter Jerusalemer bist!
    Aber was hat das miteinander zu tun?
    Bitte, tu der Menschheit einen Gefallen!
    Sie sprang wieder in ihr Bett, hüllte sich bis über die Ohren in ihre Decken und kochte tief drinnen weiter. Sie schwor sich, nie mehr würde sie ihm etwas über sich erzählen. Sie hatte gedacht, auf ihn könne sie sich verlassen. Hatte geglaubt, er sei nicht wie alle andern, er sei echt. Wie blöd war sie gewesen, wieso hatte sie sich überhaupt so einer elenden Kreatur geöffnet? Menschenskinder, wann geht der endlich! Jetzt verschwinde, hast du mich gehört? Hau ab, ich will schlafen.
    Was, das war’s?
    Und komm nicht mehr zurück! Nie mehr im Leben!
    Schon gut, murmelte er, dann … Gute Nacht.
    Was gute Nacht?! Und den lässt du mir hier?
    Was? Ach, entschuldige, den hab ich vergessen.
    Er stand auf, tastete sich seinen Weg, langsam und gebückt.
    Warte!
    Was jetzt noch?
    Sag mir erst, was du ihm erzählt hast.
    Wann?
    Ich will genau wissen, was du ihm erzählt hast!
    Jetzt willst du das wissen?
    Wann denn sonst? Wenn der Messias kommt?
    Aber was soll ich dir …
    Ich habe ein Recht darauf, das zu erfahren, findest du nicht?
    Aber das geht nicht so auf einen Satz. Ich kann nicht … Hör zu, dazu muss ich mich hinsetzen.
    Wieso hinsetzen?
    Weil ich nicht die Kraft hab …
    Sie überlegte hin und her: Dann setz dich, aber nur für kurz.
    Sie hörte seinen schweren Gang, wie er zurückkam, wie er an eine Bettkante stieß, fluchte, sich weitertastete. Bis er seinen Stuhl fand und sich fallen ließ. Sie hörte, wie schnell Ilan atmete und im Schlaf seufzte. Aus den Seufzern versuchte sie, seine Stimme zu erraten, und aus dem Dunkel seine Gestalt. Sie überlegte sich, was er schon von ihr wusste, was er über sie dachte, so einer, der einen Boykott gegen seine ganze Klasse macht.
    Und Avram schwieg.
    Also, was ist los, fiel sie über ihn her, bist du eingeschlafen?
    Moment, lass mich erst Luft holen.
    Irgendwo jaulte die Sirene eines Krankenwagens. Echos von Explosionen in der Ferne. Ora atmete mit gespitztem Mund aus. In ihrem Kopf tobte es. Im Stillen hatte sie schon eingesehen, dass ihre Wut auf Avram übertrieben war, vielleicht sogar gespielt, und in Wirklichkeit hatte es sie sehr angerührt, als er so einfach gesagt hatte, er könne keine Geheimnisse hüten, so als hätte er sich damit abgefunden. Doch sie versuchte, sich vor der unerwarteten, verwirrenden Zuneigung zu schützen, die in ihr aufkam, versuchte sich krampfhaft vorzustellen, was ihre Kumpel zu einem wie ihm sagen, wie sie ihn zum Beispiel im Ideologischen Gesprächskreis auseinandernehmen würden, oder was Avner von ihm halten würde. Und für einen Moment blätterte sie im Kopf in den Briefen, die Avner ihr jede Woche aus dem Militärinternat geschickt hatte, und nun vom Militär, in diesen quadratischen Umschlägen vom Militär, mit der Aufschrift »Deine Verschwiegenheit – Unser Erfolgsgeheimnis« und dem dreieckigen Stempel der Militärzensur, und plötzlich hörte sie Ada leise lachen: Was gibt’s bei dem überhaupt zu zensieren?

    Merkwürdig, dass sie in all den Tagen im Krankenhaus nicht an ihn gedacht hat, und vielleicht war er jetzt irgendwo im Krieg dabei, höchstwahrscheinlich sogar, und sie dachte weder an den Krieg noch an ihn. Nur manchmal, in der Nacht, kamen mit der Militärmusik die blechernen Stimmen, doch solange sie wach war, boykottierte sie den Krieg, ja, genau das tat sie, und Avner boykottierte sie genauso, und im Grunde auch ihre Eltern und die Kumpel aus der Klasse und von den Machanot Olim , die jetzt bestimmt nur noch den Krieg im Kopf hatten, noch nicht einmal ein Päckchen haben sie ihr geschickt, man kann’s verstehen, jetzt ging eben alles an die Soldaten, aber wie kommt es, dass auch sie hier kaum an sie dachte. Nichts. Eine einzige große Null.
    Wie sehr hatte sie sich von all den Menschen, die ihr lieb und teuer waren, entfernt, stellte Ora mit Erschrecken fest. Als wäre ihre ganze Welt jetzt die Krankheit, das Fieber, der Bauch und das Jucken. Und Avram, den sie vor drei oder vier Tagen noch gar nicht kannte. Wie ist das passiert? Wie hat sie alle vergessen können?

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