Eine Frau flieht vor einer Nachricht
sein Gesicht zur Betrachtung und Beurteilung hinhält, indem er die geschlossenen Augen fest zusammenkneift und angestrengt alle seine Züge in Falten legt. Füreinen Moment kommt er ihr vor wie einer, der einen besonders zerbrechlichen Gegenstand in die Luft geworfen hat und ängstlich wartet, dass er zerschellt.
Ora stößt einen schmerzhaften Atemzug aus und leckt sich die angesengten Finger. Nach kurzem Zögern zündet sie noch ein Streichholz an und hält es sich mit einer Art ernster Aufrichtigkeit vor die Stirn, schließt die Augen und führt es vor ihrem Gesicht schnell auf und ab. Ihre Wimpern flattern, ihre Lippen wölben sich ein bisschen vor, wie von selbst. Schatten brechen sich auf ihren hohen, langen Wangenknochen, ihrem etwas vorstehenden provokativen Mund und ihrem Kinn. Etwas Unklares, gleichsam Schlaftrunkenes liegt auf diesem schönen, hellen Gesicht, etwas Ratloses, noch nicht Entwöhntes, und vielleicht ist das auch nur die Krankheit. Aber ihr kurzes Haar steht in Flammen, glänzende Bronze; auch nachdem das Streichholz verloschen ist und das Dunkel sie wieder umgibt, glüht sein Glanz noch in Avrams Augen.
Avram?
Was?
Schläfst du?
Ich? Ich dachte, du.
Glaubst du wirklich, wir werden wieder gesund?
Bestimmt.
Manchmal hab ich nämlich solche Gedanken.
Zum Beispiel?
Weiß nicht.
Nein, nein, das wird wieder, du wirst wieder okay.
Als ich ankam, waren vielleicht hundert Leute auf der Isolierstation. Vielleicht haben wir etwas, was die nicht heilen können.
Du meinst – wir beide?
Wer eben hier noch übrig ist.
Nur wir beide und der da aus meiner Klasse.
Aber warum ausgerechnet wir?
Wir haben die Komplikationen.
Genau. Und warum ausgerechnet wir?
Weiß ich nicht.
Das macht mir Angst.
Wir werden schon wieder gesund, du wirst sehn.
Ich habe null Kraft.
Du wirst wieder stark, bestimmt, ich bin hier, ich lass dich nicht.
Ich schlaf gleich wieder ein …
Ich bleib hier.
Warum schlaf ich die ganze Zeit ein?
Der Körper ist schwach.
Schlaf du nicht ein, pass auf mich auf.
Dann red mit mir.
Worüber?
Über dich.
Was gibt es von mir zu erzählen?
Wie zwei Schwestern waren sie gewesen. »Die siamesischen Zwillinge« hatte man sie genannt, obwohl sie sich überhaupt nicht ähnlich sahen. Acht Jahre lang, im Alter von sechs bis vierzehn Jahren, von der ersten Klasse bis zum Ende des ersten Trimesters der achten, hatten sie in derselben Bank gesessen und sich auch nach der Schule nicht getrennt, waren immer zusammen, zu Hause bei der einen oder bei der andern, in den Machanot Olim , auf Ausflügen und bei Workcamps – hörst du überhaupt zu?
Was? … Ja, ich hör zu.
Was hab ich gesagt?
Der Kopf … Die ganze Zeit dreht sich mir der Kopf.
Genug, dann schlaf jetzt.
Nein, sag mal …
Was?
Etwas hab ich nicht verstanden. Warum seid ihr nicht mehr Freunde?
Warum?
Ja.
Weil sie nicht mehr …
Nicht mehr was?
Lebt.
Ada?!
Sie hörte, wie er zusammenzuckte, als hätte man ihn geschlagen. Sofort zog sie die Beine an, umschlang die Knie und begann, sich vor und zurück zu wiegen. Ada ist tot. Ada ist schon zwei Jahre tot, sagte sie schnell zu sich, das ist in Ordnung, das ist in Ordnung, alle wissen, dass sie tot ist. Wir haben uns schon daran gewöhnt, sie ist tot. Das Leben geht weiter. Aber sie spürte, dass sie Avram soeben etwas sehr Geheimes und Intimes offenbart hatte, etwas, was nur sie und Ada wirklich wussten.
Danach beruhigte sie sich aus irgendeinem Grund. Hörte auf, sich zu wiegen. Wartete auf etwas und wusste nicht, worauf. Eine dunkle, zähe Stille umgab sie. Langsam atmete sie wieder, vorsichtig, sie hatte ein Gefühl von Dornen in der Lunge und den merkwürdigen Gedanken, dass er sie ihr rausziehen könnte. Vorsichtig, einen nach dem andern.
Hör mal.
Ja.
Manchmal denk ich im Laufe des Tages über das nach, was wir in der Nacht gesprochen haben.
Aber warte, sag mir …
Manchmal erinner ich mich nicht, ob ich dir Sachen gesagt hab oder ob ich nur geträumt hab, ich hätte sie gesagt.
Aber woran ist sie gestorben?
Autounfall. Du musst wissen …
Ein Unfall?
Ihr habt genau denselben Humor.
Wer?
Du und sie. Wirklich genau denselben.
Ach, deshalb …
Was?
Deshalb lachst du nicht über meine Witze?
Avram …
Ja.
Gib mir die Hand.
Was?
Gib mir deine Hand, schnell.
Aber dürfen wir das?
Sei kein Idiot, jetzt mach schon.
Nein, du verstehst nicht, wegen der Isolation.
Wir haben uns doch sowieso schon angesteckt.
Aber vielleicht …
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