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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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gib mir schon deine Hand!

    Das war in den Chanukkaferien, sagte sie und hielt seine Hand zwischen ihren beiden Händen und wiegte sie hin und her, als wolle sie ihn gleichzeitig von sich stoßen und festhalten. Ihr Kopf tat weh, wie von einer Zange zusammengedrückt. Was ist mit ihr los, was soll das alles, warum erzählt sie ihm ihre privatesten Dinge, und wie kommt es, dass es ihr so leichtfällt, mit ihm zu reden, dabei kennt sie ihn doch überhaupt nicht, und dieses merkwürdige Gesicht, fast erwachsen, nicht wie von einem Jungen in ihrem Alter, und diese Übertreibungen, wie er »Ada« geschrien hat, als hätte er sie wirklich gekannt, als ginge es ihm wirklich um sie. Übrigens, denkt sie jetzt, vielleicht gilt sie überhaupt noch als die Freundin von Avner Feinblatt. Oder zumindest als seine Seelenfreundin – vor allem jetzt, wie kann sie ihn jetzt betrügen, wo doch Krieg ist, und die Hand eines völlig Fremden halten, von dem sie nichts, aber auch gar nichts weiß.
    Aber warte, Avram, davor …
    Wovor?
    Bevor sie gestorben ist …
    Was?
    Da hat sie gelebt …

    Ada und sie. Alles kommt zurück, sie ist aufgeregt, wie passiert das, so plötzlich, und nach so langer Zeit. Auch diese überraschende Klarheit der Erinnerung: Endlose Diskussionen über Jungen, ob sie eine künstlerische Ader hatten oder nicht, tiefschürfende Gespräche über ihre Eltern – denn fast von Anfang an übersteigt ihre Treue zueinander die gegenüber Familiengeheimnissen. Wie sie zusammen angefangen hatten, Esperanto zu lernen (und nicht weitermachten), um die legendären Briefe von Sohara und Schmulik aus dem Unabhängigkeitskrieg zu übersetzen, denn Ora wollte, dass alle Menschen auf der Welt diese Liebesgeschichte lesen konnten. Und der Almanach der geschützten Wörter , den sie hegten und pflegten, als handelte es sich um eineSammlung seltener Schmetterlinge, mit Wörtern, die man nur »in ausgewählten Augenblicken und unter Bedingungen vollständigen Vertrauens aussprechen darf«, so stand es auf dem Umschlag des Heftes, in dem sie die Wörter sammelten. Und der Jahresausflug an den See Genezareth, im Bus hatte Ada Bauchschmerzen gehabt und Ora erklärt, sie werde jetzt sterben, und Ora hatte neben ihr gesessen und bitterlich geweint. Und ausgerechnet, als sie wirklich gestorben ist, da hab ich nicht geweint, da konnt ich nicht, alles war mir ausgetrocknet, keine Ahnung, seit sie tot ist, hab ich kein einziges Mal mehr geweint.
    Eine kleine Straße und noch eine Gasse hatten zwischen ihren Häusern im Neve-Schaanan-Viertel gelegen. Sie waren zusammen zur Schule und zusammen nach Hause gegangen, und wenn sie bei Oras Haus ankamen, machten sie kehrt, und Ora begleitete Ada nach Hause, immer hin und her, und die Straße haben sie nur Hand in Hand überquert, das hatten sie sich mit sechs Jahren angewöhnt, und so taten sie es auch noch mit vierzehn, Ora erinnerte sich an dieses eine Mal, sie waren neun gewesen und hatten an dem Tag gestritten, sie hatte Adas Hand am Zebrastreifen nicht gehalten, und plötzlich tauchte ein Lastwagen von der Stadtverwaltung auf, fuhr sie an und schleuderte sie in die Luft …
    Und wieder sah sie es: Der rote Mantel öffnete sich wie ein Fallschirm. Ora war nur zwei Schritte hinter ihr gewesen, hatte sich sofort umgedreht und war hinter einen Heckenzaun geflohen, hatte sich auf die Erde gehockt, sich beide Ohren zugehalten, fest die Augen zuammengepresst und laut in ihrem Kopf gesummt, um nichts zu hören und zu sehen.
    Und ich wusste nicht, dass das bloß die Generalprobe war, sagte sie zu ihm.
    Ich bin nicht gut im Retten, sagte sie danach noch, vielleicht zu sich selbst, vielleicht warnte sie ihn auch.

    Fast jeden Tag hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, bei Ada, dort schmeckte es besser, und man durfte beim Essen reden und auch lachen. Es war eine lachende Familie, drei lachende rundliche Leute, und allein das brachte sie alle vier noch mehr zum Lachen. Nach den Hausaufgaben hielten sie beide Mittagsschlaf, Hand in Hand schliefensie in dem kleinen Bett ein und wachten von leckeren Düften auf: Adas Vater hatte ihnen zum Aufwachen Bratäpfel gemacht. Und im Sommer, an den Freitagabenden, schlichen sie im Schlafanzug auf Abkürzungswegen, die absichtlich viel länger waren, durch die Höfe und Gärten der Mietshäuser, kühlten ihre glühenden Gesichter an Laken und Hemden, die zum Trocknen an den öffentlichen Leinen hingen, hüllten sich darin ein, tanzten lautlos, zwei kleine Gespenster,

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