Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anonyma
Vom Netzwerk:
eingeschlagen. Offenbar ist es von dem Dieb für eine Lebensmittelkartentasche gehalten worden. Der Arme! Muß der enttäuscht gewesen sein! Übrigens eine Story, die Hamsun gefallen würde.
    Heute morgen beim Bäcker ging das Gerede: »Wenn die kommen, holen sie alles Eßbare aus den Häusern. Die geben uns nichts. Die haben ausgemacht, daß die Deutschen erst mal acht Wochen hungern sollen. In Schlesien laufen sie schon in die Wälder und graben nach Wurzeln. Die Kinder verrecken. Die Alten fressen Gras wie die Tiere.«
    Soweit die Vox Populi. Man weiß ja nichts. Kein Völkischer Beobachter liegt mehr auf der Treppe. Keine Frau Weiers kommt und liest mir zum Frühstück die fetten Schändungsbalken vor. »Siebzigjährige Greisin geschändet. Ordensschwester vierundzwanzigmal vergewaltigt.« (Wer zählte da mit?) Das sind so die Schlagzeilen. Sollen sie etwa die Männer Berlins anstacheln, uns Frauen zu schützen und zu verteidigen? Lachhaft. Tatsächlich werden dadurch nur weitere Tausende hilfloser Frauen und Kinder auf die Ausfallstraßen gen Westen gejagt, wo sie dann verhungern oder durch Bordbeschuß krepieren dürfen. Beim Lesen kriegte Frau Weiers immer ganz runde, glänzende Augen. Irgend etwas in ihr genoß die Greuel. Oder ihr Unbewußtes freute sich, daß es sie nicht traf. Denn Angst hat sie, und weg wollte sie unbedingt. Hab sie seit vorgestern nicht mehr gesehen.
    Das Radio ist seit vier Tagen tot. Wieder mal merkt man, was für zweifelhafte Sachen uns die Technik beschert hat. Sie haben keinen Wert an sich, sind nur bedingt wertvoll, so lange man sie irgendwo einstöpseln kann. Brot ist absolut. Kohle ist absolut. Und Gold ist Gold, in Rom oder Peru oder Breslau. Dagegen Radio, Gasherd, Zentralheizung, Kochplatte, die ganze große Bescherung der Neuzeit – sinnloser Ballast, wenn die Zentrale versagt. Wir sind zur Zeit auf dem Rückmarsch in vergangene Jahrhunderte. Höhlenbewohner.
    Freitag, schätzungsweise 19 Uhr. Hab schnell noch eine letzte Fahrt auf der Straßenbahn gemacht, Richtung Rathaus. Wummern und Rollen, pausenloses Gewitter der Geschütze. Kläglich schrie die Schaffnerin dagegen an. Ich fraß die Gesichter der Menschen ringsum. Es steht alles darin, was niemand ausspricht. Wir sind ein Volk von Stummen geworden. Bloß im vertrauten Keller sprechen die Menschen noch miteinander. Wann werde ich wieder mit der Bahn fahren? Ob überhaupt je? In dem Zeitungsblatt steht, daß ab morgen die Fahrausweise der Stufen I und II, mit denen sie uns die letzten paar Wochen gepiesackt haben, ungültig werden – daß bloß noch Inhaber der roten Karte von Stufe III die Verkehrsmittel benutzen dürfen. Also einer von vielleicht vierhundert, also keiner, also Schluß.
    Kalter Abend, trockene Wasserhähne. Immer noch kochen meine Kartoffeln auf dem winzigen Gasflämmchen. Ich kramte so herum, füllte Erbsen, Graupen, Mehl und Kaffee-Ersatz in Tüten, die ich in einem Karton verstaute. Wieder ein Stück Kellergepäck mehr zu schleppen. Hab alles nochmals aufgeschnürt, als mir einfiel, daß ich das Salz vergessen hatte. Ohne Salz kann der Körper nicht bestehen, wenigstens nicht für lange Zeit. Und auf lange Kellerhaft müssen wir uns wohl einrichten.
    Freitag, 23 Uhr, im Keller, bei Petroleumlicht, mein Schreibheft auf den Knien. – Gegen 22 Uhr fielen hintereinander drei oder vier Bomben. Gleichzeitig heulte die Sirene los. Es heißt, daß sie nun mit Handbetrieb geht. Kein Licht. Im Finstern treppab wie seit Dienstag. Man tappt und rutscht. Irgendwo schnarrt ein kleiner Handdynamo und wirft Schattenriesen auf die Wand des Treppenhauses. Der Wind bläst durch die zerbrochenen Scheiben und klappert mit den Verdunklungsrollos, die keiner mehr herabläßt – wozu auch?
    Füße schurren. Koffer ecken an. Lutz Lehmann schreit »Mutti!«. Der Weg führt über die Straße zum Seiteneingang, dann Stufen abwärts, durch einen Gang, über ein Hofquadrat mit Sternen darüber und dem Hornissengesumm der Flugzeuge. Nochmals Stufen abwärts, Schwellen, Gänge. Endlich, hinter einer zentnerschweren, mit zwei Hebeln verschließbaren, gummigeränderten Eisentür unser Keller. Amtlich Schutzraum geheißen. Von uns Höhle, Unterwelt, Angstkatakombe, Massengrab genannt.
    Ein Wald von Stämmen, nur roh entrindet, stützt die Decke. Selbst in dieser eingesperrten Luft riechen sie harzig. Der alte Schmidt, Gardinenschmidt, quatscht allabendlich von statischen Berechnungen, nach denen der Balkenwald auch dann standhalten

Weitere Kostenlose Bücher