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Eine für alle

Eine für alle

Titel: Eine für alle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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Unterwäsche zum Wechseln war aus nüchterner weißer Baumwolle, nicht die teuren Seidensachen. Ich hatte außerdem eine Flasche Badewannenreiniger und einen Lappen mitgebracht, damit ich das Waschbecken so weit säubern konnte, dass ich es ertrug, mir darüber die Zähne zu putzen. Sollte sie sich dabei denken, was sie wollte. Ich nahm die Patronen heraus und steckte sie in die Jackentaschen. Sie konnten in nächster Zeit im Handschuhfach des Impala bleiben. Ich zog die stinkenden Laken von der dünnen Matratze, stopfte sie unter das Bett und legte meine Bettwäsche darauf. Es erheiterte mich, dass jemand mit meinen schlampigen Gewohnheiten neuerdings so viel Energie darauf verwandte, in den Häusern anderer Frauen sauberzumachen.
    Das Zimmer hatte einen alten Sperrholzschrank zu bieten, ausgelegt mit Zeitungen aus dem Jahr 1966. Fasziniert las ich einen Artikel über Martin Luther Kings Rede in Soldier Field. Ich erinnerte mich an diese Rede: Ich hatte zu den hunderttausend Menschen gehört, die gekommen waren, um ihn zu hören.
    Heute Nacht war nicht der richtige Zeitpunkt für Nostalgie. Ich löste den Blick von dem dreckigen Papier und fuhr mit der Hand durch die Schubladen, um zu sehen, ob Mitch irgendein aufschlussreiches Dokument hinterlassen hatte. Ich handelte mir nur einen schwarzen Schmierstreifen von dem angesammelten Schmutz ein. Ich beschloss, meine Sachen - außer der Unterwäsche nur ein sauberes T-Shirt - im Koffer zu lassen. Ich durchsuchte das Zimmer nach möglichen Verstecken, zog lose Linoleumstücke hoch, schaute in die Kästen der dünnen Rollläden. Nirgends schien Platz für etwas Größeres als ein Papiertaschentuch zu sein. Der kleine Stapel Papiere, die Mitch für so wichtig gehalten hatte, dass er sie mit sich herumschleppte, musste der Gipfel seiner heiligen Habe gewesen sein. Und sie waren verschwunden. Sein Sohn oder der Mann, der sich als sein Sohn ausgab, hatte sie.
    Als ich die Suche beendet hatte, ließ ich den Koffer offen. Ich wusste, dass Mrs. Polter ihn durchwühlen würde, sobald ich fort war; ich wollte nicht, dass sie das Schloss aufbrach. Das Reinigungsmittel und den Lappen ließ ich auf dem Boden.
    Auf dem Stockwerk waren vier Gästezimmer. Trübes Licht kam schwach unter einer Tür hervor, und ein Radio, auf einen spanischen Sender eingestellt, spielte leise. Hinter der Tür eines zweiten Zimmers schnarchte jemand laut, aber das dritte schien leerzustehen.
    Vielleicht hatte einfach schlichter Geldmangel Mrs. Polter bewogen, mich hier wohnen zu lassen - sie hatte sofort, als ich die Eingangstreppe heraufkam, weitere zwanzig verlangt, zusätzlich zu dem, was ich ihr für Mitch bezahlt hatte.
    Im Wohnzimmer sah sie fern, als ich die Treppe herunterkam. Der große Farbfernseher zeigte Proficatcher. Das Licht des Bildschirms übertraf bei weitem das klägliche Licht der Lampe im Zimmer.
    Mrs. Polter spürte mein Kommen über die schreienden Fans auf dem Bildschirm hinweg und wandte sich mir zu. »Gehen Sie noch mal weg, Schätzchen?« Sie machte sich nicht die Mühe, den Fernseher leiser zu stellen. »Ja.«
    »Wohin gehen Sie?«
    Ich sagte das Erste, was mir in den Sinn kam. »Zu einer Totenwache.«
    Sie musterte mich kritisch. »Irgendwie eine merkwürdige Zeit dafür, nicht wahr, Schätzchen?«
    »Er war ein merkwürdiger Mensch.« Ich wandte mich zum Gehen.
    Sie versuchte, sich aus dem Sessel zu hieven. »Wenn jemand nach Ihnen fragt, was soll ich dann sagen?«
    Ich spürte ein Prickeln auf der Kopfhaut und wandte mich wieder dem Wohnzimmer zu. »Warum sollte denn jemand nach mir fragen, Mrs. Polter?«
    »Ich ... Ihre Freunde, meine ich. Ein junges Mädchen wie Sie muss doch jede Menge Freunde haben.«
    Ich lehnte mich gegen die Wand und verschränkte die Arme. »Meine Freunde wissen, dass sie mich nicht stören dürfen, wenn ich arbeite. Wer sollte da schon kommen?« »Alle möglichen Leute. Woher soll ich wissen, wen Sie kennen?«
    »Warum haben Sie mich herkommen lassen, wenn das gegen Ihre Regeln ist?« Ich hatte gebrüllt, um über den Fernseher hinweg gehört zu werden; jetzt hob ich die Stimme um ein weiteres Dezibel.
    Ihre tabakbraunen Wangen bebten - vor Wut? Angst? Schwer zu sagen. »Ich habe ein gutes Herz. Vielleicht sind Sie in Ihrem Beruf nicht daran gewöhnt, Leute mit einem guten Herzen zu treffen, deshalb merken Sie es nicht, wenn Sie so jemanden vor sich haben.«
    »Aber ich bekomme jede Menge Lügen zu hören, Mrs. Polter, und ich bin mir sicher, dass

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