Eine für alle
Gesicht minutenlang in kaltem Wasser. Das war kein Ersatz für ein Nickerchen, musste mich aber über den Tag bringen. Unter dem flackernden Neonlicht legte ich Lippenstift auf. Der fahle Schein unterstrich die flachen Stellen in meinem Gesicht, grub schroffe Kerben ein. Es war eine Vorahnung meines Aussehens im hohen Alter. Ich zog meinem Spiegelbild eine Grimasse, was die grotesken Falten noch hervorhob.
»Mädchen, du bist angezogen wie eine Karrierefrau.« Ich salutierte meinem Bild. Plötzlich fiel mir ein, dass heute Morgen die Alarmanlage installiert werden sollte. Ich rief aus der Telefonzelle des Restaurants Mr. Contreras an; er war den ganzen Vormittag zu Hause und würde die Handwerker gern hereinlassen. Er klang jedoch gedämpft. »Macht es Ihnen auch wirklich nichts aus? Wenn es Ihnen lästig ist, kann ich zurückkommen und auf die Handwerker warten.«
»O nein, Engelchen, wirklich nicht«, versicherte er mir hastig. »Ich glaube, der Besuch bei Eddie macht mir Sorgen.«
»Ich verstehe.« Ich rieb mir die Augen. »Ich will Sie auf keinen Fall dazu zwingen. Bleiben Sie zu Hause, wenn der Gedanke Sie derart unglücklich macht.« »Aber Sie gehen auf jeden Fall hin?« »Ja. Ich muss unbedingt mit ihm sprechen.«
Danach sagte er nichts mehr, außer dass er Ausschau nach den Handwerkern halten werde; dann legte er auf.
Barbara brachte mir eine frische Tasse Kaffee zum Mitnehmen. »Was Warmes zu trinken beruhigt, Schätzchen.«
Ich trank ihn, während ich die Belmont Avenue entlangging. Durch das Schlucken kam ich mir tatsächlich mir selbst wieder ähnlicher vor. Als ich zur Bank of Lake View an der Kreuzung zwischen der Belmont und der Sheffield Avenue kam, fühlte ich mich wenigstens zu einem Gespräch in der Lage.
In einem gedrungenen Steinbau mit Eisengittern vor den Fenstern sah die Bank verschlafen und den Finanzturbulenzen ihrer großen Brüder in der Innenstadt entzogen aus. Durch die vergitterten Fenster drang wenig Licht; die Eingangshalle war schmuddelig und muffig und vermutlich seit der Eröffnung 1923 nicht mehr getüncht worden. Die Bank nahm ihre Aufgabe in der Gegend jedoch ernst, investierte in das Viertel und betreute seine Einwohner mit Sorgfalt. Sie hatten die riskanten Finanzprojekte gemieden, die in den Achtzigern viele Kleinbanken ruiniert hatten; soweit ich wusste, war ihre Finanzlage gut. Die meisten Bankgeschäfte wurden in der hohen Schalterhalle hinter dem Eingangsbereich getätigt. Die drei Kreditbearbeiter saßen hinter einem niedrigen Holzgeländer, das sie von den Kassen trennte. Ich sah Alma Waters, die Frau, die mir dabei geholfen hatte, eine Hypothek für die Eigentumswohnung zu bekommen, aber ich hielt mich an das Protokoll und gab der Empfangsdame meine Visitenkarte. Alma kam eilig heraus und begrüßte mich. Sie war eine mollige Frau irgendwo zwischen fünfzig und sechzig, die bunte, eng sitzende Kleider trug, drapiert mit Schals und Modeschmuck. Heute prangte sie in einer Kombination aus Rot und Knallrosa, mit einer Reihe schwarzer und silberner Perlenketten. Sie kam in schwarzen Lacklederschuhen mit Pfennigabsätzen auf mich zu und schüttelte mir so herzlich die Hand, als hätte ich mir statt fünfzigtausend Dollar eine Million geliehen.
»Kommen Sie mit nach hinten, Vic. Wie geht es Ihnen? Was macht die Wohnung? Da haben Sie gut investiert. Ich glaube, ich habe Ihnen damals gesagt, Sie können damit rechnen, dass dieses Stück der Racine Avenue an Wert gewinnt, und so ist es gekommen. Ich habe eben die Hypothek für eine Frau in der Barry Avenue neu festgesetzt, und stellen Sie sich vor, der Wert ihrer kleinen Zweizimmerwohnung hat sich verachtfacht. Sind Sie deshalb hier?« Sie hatte meine Akte aus einer Schublade gezogen, während sie sprach. Manchmal fiel es mir schwer, die siebenhundert pro Monat für die Wohnung aufzutreiben, zusätzlich zur Miete in der Innen s tadt. Das hatte mir gerade noch gefehlt - dass sich meine Hypothek verdreifachte. Ich lächelte. »Zum Teil. Es geht darum, dass die Grundstücke in der Racine Avenue an Wert gewonnen haben. Ich brauche Hilfe - Auskünfte, die Sie mir vielleicht gar nicht geben dürfen.«
»Versuchen Sie's, Vic.« Sie lachte melodisch, zeigte einen Mund voll glänzender, gerader Zähne. »Sie kennen unser Motto: >Wir wachsen mit der Gemeinde, der wir dienen.«< »Sie wissen, dass ich Privatermittlerin bin, Alma.« Und ob sie es wusste: Mein unsicheres Einkommen hatte mich zu einem schwierigen Fall für ihre
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