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Eine für alle

Eine für alle

Titel: Eine für alle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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nicht vor der Sonne. Es war außerdem ein Lieblingstummelplatz von Fliegen und Bienen. Nach einer Weile war ich so erhitzt und verschwitzt, dass ich nicht mehr versuchte, sie wegzuwedeln, wenn sie auf meinen Armen landeten. Schließlich, ein paar Minuten vor eins, fuhr der Nissan mit dem Schotterhagel, den ich von Chamfers erwartet hatte, an mir vorbei. Ich blieb im Gras auf dem Seitenstreifen und schlich mich zur Fabrik zurück. Ein weiteres Auto kam mir vom Asphaltplatz entgegen: der kastanienbraune Honda mit dem Mann von der Personalabteilung am Steuer. Ich wartete noch ein paar Minuten, aber das schien die erste Schicht gewesen zu sein.
    Ich ging wieder hinein, zur Tür hinter der Treppe, und betrat den Montageraum. Inzwischen musste ich so aussehen wie jemand, der den ganzen Morgen in einer Sträflingskolonne beim Straßenbau gearbeitet hat. Die Oberteile der hohen Fenster waren schräggestellt, damit Luft hereinkam, aber es war hier drin trotzdem noch kühler als draußen. Die Frauen in den T-Shirts und Arbeitshosen sahen nicht besonders mitgenommen aus.
    Ein halbes Dutzend saß in der Nähe der Tür, aß Sandwiches und unterhielt sich leise auf Spanisch. Die anderen standen allein oder in Paaren unter den Fenstern, schauten ins Leere oder plauderten zwanglos. Zwei in einer Ecke führten einen heftigen Wortwechsel. Dieses Mal sahen mich alle, alle bis auf die beiden in der Ecke, und die Gespräche brachen ab.
    »Ich suche den Vorarbeiter«, sagte ich.
    »Er ist beim Essen«, sagte eine Spanischsprecherin in einem Englisch mit starkem Akzent. »Suchen Sie Arbeit?«
    »Nein. Nur den Vorarbeiter. Ist er im Haus?«
    Eine Frau zeigte schweigend auf die Tür am Ende des Raums. Trübes Neonlicht schimmerte hindurch. Ich ging an den Montagetischen vorbei darauf zu, blieb aber dann stehen.
    »Eigentlich suche ich jemanden, der meinen Onkel letzte Woche gesehen haben könnte. Er hat früher hier gearbeitet, und vor etwa einer Woche ist er zurückgekommen.« Sie starrten mich verständnislos an. »Danach ist er in den Kanal gefallen und ertrunken. Sie haben seine Leiche erst gestern gefunden.«
    Hinter mir wurde ein leises Stimmengewirr auf Spanisch hörbar. Die Gruppe an den Fenstern drängte sich wie von der Schwerkraft angezogen zusammen. Nach ein paar Augenblicken fragte eine der Frauen, was ich wollte.
    »Ich hoffe, dass ihn jemand gesehen hat.« Ich breitete verlegen die Hände aus. »Er war ein alter Mann, ein Säufer, aber der Bruder meiner Mutter. Sie will wissen, ob er mit jemandem gesprochen oder jemand ihn gesehen hat. Der Polizei ist er egal, aber sie muss es wissen - sie möchte einfach wissen, wann er gestorben ist. Er war zu lange im Wasser, als dass die Ärzte es ihr sagen könnten.«
    Das Stimmengewirr klang billigend. »Wie hat er ausgesehen, dieser Onkel von Ihnen?«, fragte eine korpulente Frau etwa in meinem Alter.
    Ich beschrieb Mitch, so gut ich konnte. »Er war früher hier Maschinenschlosser. Viele Jahre lang.«
    »Oh, ein Maschinenschlosser. Die arbeiten auf der anderen Seite, wissen Sie.« Das war eine der Frauen am Fenster, etwa fünfzig mit einer verfilzten gelben Dauerwelle. Als sie meinen begriffsstutzigen Blick sah, fügte sie hinzu: »Sie müssen um alle Büros herumgehen und dann nach links, dann kommen Sie in den Maschinenraum, Schätzchen.«
    Ich wandte mich zur Tür, als sie nachdenklich sagte: »Vielleicht habe ich Ihren Onkel gesehen, Schätzchen. Letzten Montag, haben Sie gesagt? Aber es muss früher gewesen sein. Wir hatten gerade Schichtende, wissen Sie, und wir hörten Gebrüll auf der anderen Seite, und dann kam dieser alte Mann um die Ecke, irgendwie schlurfend, und lachte vor sich hin, und einer der Bosse tauchte hinter ihm auf, immer noch brüllend.«
    »Wissen Sie, wer das war? Welcher von den Bossen?« Ich versuchte, nicht zu schnell zu sprechen.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht besonders darauf geachtet. Wissen Sie, in Gedanken war ich beim Abendessen, was ich kochen soll, was ich wohl im Laden auftreibe, Sie wissen doch, wie das ist, Schätzchen.« »Sie erinnern sich nicht an das, was er gesagt hat, oder?«
    Sie nagte einen Augenblick an der Unterlippe, versuchte, sich zu erinnern. »Es ist über eine Woche her, und ich habe nicht darauf geachtet.«
    Eine jüngere Frau, die neben ihr stand, ergriff das Wort. »Ich erinnere mich, bloß weil er genau wie mein Onkel Roy aussah.« Sie schaute mich entschuldigend an, als wollte sie nicht unterstellen, ich hätte

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