Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
ausgeschlagen hat. Er dürfte auf privaten Festen benutzt worden sein, und angesichts der dargestellten Szenen dürften ihm die Bewunderung und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher gewesen sein.
Ausgiebiges Speisen und Trinken gehörten zu den wichtigsten Ritualen der römischen Welt. Überall im Reich nutzten römische Beamte und lokale Persönlichkeiten Bankette, um politische und geschäftliche Beziehungen zu pflegenund Reichtum und Status zur Schau zu stellen. Römische Frauen waren von Ereignissen wie den Trinkgelagen, bei denen unser Becher zum Einsatz gekommen sein dürfte, ausgeschlossen, und wir dürfen vermuten, dass er für eine Feier mit rein männlicher Gästeliste gedacht war.
Man stelle sich vor: Ein Mann kommt irgendwann um das Jahr 10 n. Chr. in eine großzügige Villa in der Nähe von Jerusalem. Sklaven geleiten ihn in einen opulenten Speisesaal, wo er es sich zusammen mit anderen Gästen bequem macht. Auf dem Tisch stehen silberne Servierteller und verzierte Trinkgefäße. Das dürfte in etwa der Kontext gewesen sein, in dem unser Becher unter den Gästen herumgereicht wurde. Auf ihm sind zwei Szenen zu sehen, in denen sich Männer in einem großzügigen Privathaus lieben. Die Liebenden liegen auf Sofas ähnlich denen, auf denen sich die Gäste unseres imaginären Abendessens ausgestreckt haben. Zudem erkennt man eine Leier und Pfeifen, die darauf warten, gespielt zu werden, während die Beteiligten sich ihren sinnlichen Genüssen hingeben. Die Althistorikerin Bettany Hughes meint dazu:
«Auf dem Becher sind zwei verschiedene Varianten eines homosexuellen Geschlechtsakts zu sehen. Auf der Vorderseite sehen wir einen älteren Mann – wir wissen, dass er älter ist, weil er einen Bart trägt –, auf dem rittlings ein sehr hübscher Jüngling sitzt. Das Ganze ist ausgesprochen lebhaft und realistisch dargestellt – es handelt sich keineswegs um eine idealisierte Sicht der Homosexualität. Schaut man sich die Rückseite an, findet sich eine eher dem Standard entsprechende Darstellung von Homosexualität. Sie zeigt zwei sehr hübsche junge Männer – wir wissen, dass sie jung sind, weil ihre Haarlocken bis zum Rücken reichen. Einer liegt auf der Seite und der etwas Ältere von beiden blickt zur Seite. Hier handelt es sich um eine deutlich gefühlvollere, stärker idealisierte Sicht auf die Homosexualität.»
Die auf dem Becher dargestellten homosexuellen Szenen mögen auf uns Heutige recht explizit – auf manche sogar schockierend und skandalös – wirken, doch im alten Rom war Homosexualität ein fester Bestandteil des Lebens. Ganz unkompliziert freilich war die Sache nicht, sie wurde geduldet, aber nicht völlig akzeptiert. Das römische Grundprinzip dessen, was bei gleichgeschlechtlichem Sex erlaubt war, hat der römische Komödiendichter Plautus in seinem Stück
Curculio
so zusammengefasst: «Enthältst du dich von Ehefrauen, ehrbaren Jungfrauen,Witwen, jungen Männern und freien Knaben, magst du lieben, was du willst.»
Die andere Seite des Bechers zeigt zwei Jünglinge.
Wollte man Sex zwischen Männern und Jünglingen, die keine Sklaven waren, zeigen, war es deshalb sinnvoll, auf die Zeit des klassischen Griechenlands zurückzublicken, wo es ganz normal war, dass ältere Männer Knaben Unterricht in allgemeinen Lebensfragen gaben, in einer Mentorenbeziehung, zu der auch Sex gehörte. Das frühe Römische Reich hatte Griechenland idealisiert und viel von dessen Kultur übernommen, und der Becher zeigt denn auch eindeutig eine griechische Szene. Haben wir es also mit einer römischen Sexualphantasie von einem männlichen Geschlechtsakt aus dem klassischen Griechenland zu tun? Vielleicht ist es so, dass man das moralische Unbehagen auf sichere Distanz hält, wenn man die Szene in der griechischen Vergangenheit ansiedelt, während gleichzeitig der Reiz des Verbotenen und Exotischen zunimmt. Und vielleicht ist ohnehin jeder der Überzeugung, dass der beste Sex immer anderswo zu finden ist. Professor James Davidson, Autor des Buches
The Greeks and Greek Love
, erklärt dazu:
«Dieser Becher blickt zwar zurück auf die klassische Zeit, doch die griechischen Vasenmaler, die keineswegs prüde oder zurückhaltend waren, wenn es um die Darstellung von Sex ging, verzichteten bewusst auf Szenen des homosexuellen Geschlechtsakts, zumindest wenn er mit Penetration verbunden war. Die Römer zeigen also, was 500 Jahre vorher nicht gezeigt werden konnte. Die griechische Welt lieferte eine Art
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