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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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oder einen schwulen Becher?»
    Hundert Jahre nach dem Erwerb durch Warren ist sein Becher nunmehr hier im Museum dauerhaft ausgestellt, und er erfüllt einen sehr nützlichen Zweck. Es handelt sich nicht nur um ein herausragendes Stück Metallarbeit aus dem Römischen Reich. Der Weg dieses Bechers vom festlichen Trinkgefäß zum Skandalbecher und schließlich zum musealen Kultobjekt erinnert uns daran, dass die Art und Weise, wie Gesellschaften Sexualbeziehungen betrachten, immer im Fluss ist.



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Nordamerikanische Otterpfeife
    Steinpfeife, aus Mound City, Ohio, USA
200 v. Chr.–100 n. Chr.
    Das Britische Museum zeigt im Hinblick auf zahlreiche Aspekte, wie sich die Einstellungen der Gesellschaft im Lauf der Geschichte verändern, nicht nur in Sachen Sex. Hier haben wir ein Objekt, das einst enorme gesellschaftliche Bedeutung hatte, heute aber aus so gut wie allen öffentlichen Örtlichkeiten verschwunden ist: die Tabakpfeife. Das Rauchen mit seinen Freuden und Gefahren hat eine lange Geschichte, und diese Pfeife zeigt, dass dem Laster vor 2000 Jahren in Nordamerika kräftig gefrönt wurde.
    Die hier zu sehende Pfeife hat in etwa die Größe und Form eines Kazoo. Anders als die moderne Pfeife mit einem langen Stiel und dem Pfeifenkopf am einen Ende ist diese aus rötlichem Stein gemeißelt und hat ein flaches Fundament von etwa zehn Zentimetern Länge, das in Farbe und Größe ziemlich genau einem Bourbonkeks ähnelt. An dem einen Ende findet sich ein kleines Loch, das als Mundstück fungiert. Der Pfeifenkopf befindet sich in der Mitte, doch handelt es sich nicht um eine schlichte Aushöhlung, die mit Tabak gefüllt wird; er hat die Form der oberen Körperhälfte eines schwimmenden Otters, der seine Vorderpfoten aufs Flussufer gelegt hat, als sei er gerade aus dem Wasser aufgetaucht, um sich umzusehen. Der Stein ist glatt und mutet auf wundervolle Weise an wie der nasse Pelz des Tieres. Der Otter blickt die Pfeife entlang, so dass derjenige, der die Pfeife raucht, und der Otter sich in die Augen schauen. Doch der Raucher ist diesem Tier noch viel näher: Nimmt man die Pfeife in den Mund, merkt man, dass man sich Nase an Nase mit dem Otter befindet. Dieser Kontakt dürfte ursprünglich sogar noch eindrucksvoller gewesen sein als heute, denn die jetzt leeren Augenhöhlen waren vermutlich mit Flussperlen besetzt. Dieses wunderbargefertigte und beeindruckend plastische Objekt signalisiert den frühesten Gebrauch von Tabakpfeifen in der Weltgeschichte. Mit ihm beginnt die Geschichte des Pfeifenrauchens.
    Rauchen gilt heute bekanntlich weithin als tödliches Laster, doch vor 2000 Jahren war Pfeifenrauchen in Nordamerika ein grundlegender zeremonieller und religiöser Bestandteil des menschlichen Lebens. Verschiedene Gruppen von Ureinwohnern lebten über den Kontinent verstreut, und zwar auf deutlich vielfältigere Weise, als dies unzählige Hollywood-Western vermuten lassen. Die im mittleren Amerika lebenden Menschen – in den Regionen um die mächtigen Flüsse Mississippi und Ohio, vom Golf von Mexiko bis zu den Großen Seen – betrieben Viehzucht und Ackerbau. Städte gab es nicht, dafür bestückten die Menschen ihre riesige Landschaft mit außergewöhnlichen Monumenten. Während die kleinen Agrar- und Handelsgemeinschaften offenbar getrennt voneinander lebten, starb man gemeinsam und errichtete mit vereinten Kräften riesige Erdbauten als Versammlungsorte für Zeremonien und für die Bestattung der Toten. Innerhalb dieser Erdbauten befanden sich die Gräber voller Dekorationsgegenstände und Waffen, die aus exotischen, von weit her kommenden Rohmaterialien gefertigt wurden: Es gab Zähne von Grizzlybären aus den Rocky Mountains, Muschelschalen aus dem Golf von Mexiko, Katzensilber aus den Appalachen und Kupfer aus der Gegend der Großen Seen. Diese spektakulär gestalteten Grabhügel sollten später europäische Besucher in Staunen versetzen – insbesondere eine Gräberstätte namens Mound City, die sich im heutigen Ohio befindet: eine rund fünf Hektar große, abgeschlossene Stätte mit 24 separaten Grabhügeln. In einem dieser Gräber fanden sich rund 200 Steinpfeifen, darunter auch unsere Otterpfeife.
    Die Pfeife stammt aus der Zeit, aus der wir über die frühesten Belege für Tabak konsum in Nordamerika verfügen. Tabak wurde zuerst in Mittel- und Südamerika angebaut und eingewickelt in die Blätter anderer Pflanzen geraucht, ähnlich wie eine Zigarre. Im kälteren Norden gab es jedoch keine

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