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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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die Zoroastrier im Geburtsland ihres Glaubens nur eine verschwindende Minderheit.»
    Doch ungeachtet ihrer kleinen Zahl sind einige zentrale Lehren ihres Glaubens bis heute höchst einflussreich, vor allem die vom ewigen Konflikt zwischen Gut und Böse und vom Ende der Welt. Die Politik im Nahen und Mittleren Osten wird noch immer heimgesucht und in gewissem Maße bestimmt von dem Glauben an eine Apokalypse und den Triumph der Gerechtigkeit – eine Vorstellung, die Judentum, Christentum und Islam vom Zoroastrismus übernahmen. Und wenn Politiker in Teheran vom «Großen Satan» sprechen und Politiker in Washington das «Reich des Bösen» beschwören, ist man versucht, darauf hinzuweisen, dass so Zarathustra sprach.



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Das Mosaik von Hinton St. Mary
    Römisches Mosaik, aus Hinton St. Mary, Dorset, England
300–400 n. Chr.
    Im Britischen Museum haben wir eine eigene Galerie, die Objekten aus der Zeit gewidmet ist, als Britannien vor gut 1700 Jahren Teil des Römischen Reiches war. Dort findet sich ein breites Spektrum an Göttern: ein winziger, zwergenhafter Mars, Bacchus mit seinem Weinbecher, Pan, der auf einem Silberteller flötet – und etwas, das aussieht wie ein weiterer heidnischer Gott, diesmal in einem Mosaik. Es handelt sich um das – in etwa lebensgroße – Brustbild eines glattrasierten Mannes mit zurückgelegtem hellem Haar. Er trägt eine Tunika und eine Robe, die fest um seine Schultern gewickelt ist. Hinter seinem Kopf finden sich, übereinander gelegt, die beiden griechischen Buchstaben Chi und Rho, und sie verraten uns sogleich, um wen es sich handelt: Es sind die beiden ersten Buchstaben des Wortes
Christos
, und wir haben es mit einer der frühesten Christusdarstellungen überhaupt zu tun. Es ist erstaunlich, dass dieses Mosaik überlebt hat: Es wurde nämlich nicht für eine Kirche im östlichen Mittelmeerraum oder im kaiserlichen Rom angefertigt, sondern für den Fußboden einer Villa in Dorset, irgendwann um das Jahr 350 n. Chr. herum.
    Der Fußboden bestand überwiegend aus lokalen Materialien – aus schwarzen, roten und gelblichen Steinen, die alle in die größte aller bautechnischen Erfindungen der Römer hineingesetzt wurden, nämlich in Zement. Beim Betreten des Raumes hätte man auf dem Boden als Erstes ein Rundmosaik gesehen, das den mythologischen Helden Bellerophon zeigt, wie er auf dem fliegenden Pferd Pegasus reitet und die Chimäre bezwingt, ein Ungeheuer, das Löwe, Ziegenbock und Schlange in sich vereint. Dieses Bild war in der römischen Welt sehr populär – der Held, der die Mächte des Bösen auslöscht, wie wir das ja schonim vorangegangenen Kapitel auf dem Teller Schapurs II. gesehen haben. Doch am hinteren Ende des Raums fand sich, in die andere Richtung blickend, ein weiteres Rundmosaik. In früheren Zeiten hätte man davon ausgehen können, an dieser Stelle Orpheus zu finden, der die Welt mit seiner Musik bezaubert, oder den überall beliebten Weingott Bacchus. Hier aber haben wir es mit Christus zu tun.
    In den ersten zwei oder drei Jahrhunderten des Christentums wäre allein die Vorstellung, das Antlitz Gottes zu schauen, ja überhaupt die Vorstellung eines Gottes in Menschengestalt, völlig undenkbar gewesen; denn erstens gab es keine Zeugnisse von Christi Erscheinen, an denen sich Künstler hätten orientieren können, und zweitens wirkte das jüdische Erbe nach, wonach ein Gott im Geiste und in der Wahrheit zu verehren sein, aber keinesfalls in der Kunst dargestellt werden dürfe. Das hielt die frühen Christen von jedem Versuch in dieser Richtung ab. Heute jedoch leben wir in einer Welt, in der das Bildnis Christi allgegenwärtig ist, ein Gesicht, das sofort erkannt wird. Wie kam es zu diesem Wandel? Die Entscheidung, das Antlitz Christi bildlich darzustellen – die möglicherweise daher rührte, dass die Römer es einfach gewohnt waren, ihre Götter als Statuen, als Malereien und in Mosaiken vor Augen zu haben –, war nicht nur ein wichtiger theologischer Schritt, sondern einer der entscheidenden Wendepunkte in der visuellen Kultur Europas.
    Dieses Antlitz Christi aus Dorset stammt aus dem letzten Jahrhundert römischer Herrschaft in Britannien. Es war in vielerlei Hinsicht ein goldenes Zeitalter, eine verschwenderische Welt, in der die herrschende Klasse enorme Summen ausgeben konnte, um ihre Villen auszuschmücken oder den eigenen Reichtum in Form spektakulären Geschirrs zur Schau zu stellen. In den Schaukästen der Galerie, in denen das Bildnis

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