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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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eine Menschenhand, eine fast wörtliche Manifestation des Ausdrucks «seine rechte Hand auf etwas geben». Der Mensch, dessen Hand hier abgebildet ist, wollte seine Hand in die Hand eben dieses Gottes legen und sich dessen Gunst erwerben – er trug sogar den gleichen Namen wie sein Gott, nämlich Ta’lab.
    Vor 1700 Jahren gab es auf der Welt weit mehr Religionen und viel mehr Götter als heute. Die Götter trugen damals zumeist rein lokale Verantwortung und wurden nicht weltweit verehrt, wie das heute der Fall ist. In Mekka beispielsweise beteten die Pilger in der Zeit vor Mohammed in einem Tempel, in dem an jedem Tag des Jahres eine andere Götterstatue aufgestellt war. Unser Objekt hier war ein Geschenk an einen dieser zahllosen arabischen Götter, welche die Ankunft Mohammeds nicht überlebt haben. Sein vollständiger Name lautete Ta’lab Riyam, was «der Starke aus Riyam» bedeutet. Riyam war eine auf einer Anhöhe gelegene Stadt im Jemen, und Ta’lab beschützte die örtliche Bevölkerung. Der Jemen war im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine prosperierende Gegend, ein internationales Handelsdrehkreuz, das einige der gefragtesten Waren für die riesigen Märkte im Mittelmeerraum, im Nahen und Mittleren Osten und in Indien produzierte. So versorgte der Jemen das gesamte Römische Reich mit Weihrauch und Myrrhe.
    Die Bronzehand gehörte einst einem Mann namens Wahab Ta’lab. Sie ist inetwa lebensgroß, aus Bronze und überraschend schwer. Sie ist erstaunlich lebensecht, doch fehlt der Arm, so dass sie aussieht, als sei sie abgetrennt. Doch Jeremy Field, Orthopäde und Handchirurg am Cheltenham General Hospital, versichert, das sei nicht der Fall:

    «Die Adern sind bemerkenswert sorgfältig herausgearbeitet, was eigentlich dagegen spricht, dass es sich um irgendeine Form von Amputation gehandelt hat. Würde eine Hand amputiert, wären die Adern leer, weil ganz offenkundig das Blut herausfließen würde. Hier aber sind sie sehr sorgfältig gestaltet und ziemlich eindrucksvoll geraten. Ich bin mir sicher, dass es sich um den Abguss einer Menschenhand handelt, aber ein paar Sachverhalte sind etwas seltsam. Die Fingernägel sind löffelförmig, was auf einem Menschen schließen lässt, der unter Anämie litt; die Finger sind wirklich spindeldürr, und der kleine Finger ist sichtlich deformiert, was meiner Ansicht daher rührt, dass er irgendwann einmal gebrochen war.»
    Es sind winzige medizinische Details wie diese, die Wahab Ta’lab nach 1700 Jahren im Dunkel des Vergessens wieder lebendig werden lassen. Ich selbst frage mich, wie alt er wohl war – die Adern auf dem Handrücken treten sehr deutlich hervor – und vor allem bei welcher Gelegenheit er sich den kleinen Finger gebrochen hat. Passierte das vielleicht in einer Schlacht? Es sieht nicht so aus, als sei es auf dem Feld passiert – die Hand wirkt nicht wie die eines Arbeiters. Ein Wahrsager würde natürlich sofort nach den Linien in der Handfläche schauen; doch die Innenseite der Hand blieb unbearbeitet. Gleichwohl gibt es Linien, jedoch auf dem Handrücken, und zwar handelt es sich um Textzeilen in einer alten jemenitischen Sprache, die sowohl mit dem modernen Hebräisch als auch mit dem Arabischen in Verbindung steht. Die Inschrift verrät uns, wofür dieses Objekt bestimmt war und wo es zur Schau gestellt wurde:
    «Der Sohn von Hisham, [der] Jursamite, Angehöriger der Banu Sukhaym, hat für sein Heil seine rechte Hand ihrem Schutzpatron Ta’lab Riyam im Gottesschrein dhu-Qabrat in der Stadt Zafar dargebracht.»
    Das ist eine etwas rätselhafte Abfolge von Namen und Orten, doch Historiker, die Gesellschaft und Religion des alten Jemens rekonstruieren wollen, haben nur Inschriften wie diese, und sie enthält denn auch jede Menge Information. WennFachleute diese Inschrift entschlüsseln, erfahren wir, dass diese Bronzehand im Tempel des Gottes Ta’lab Riyam an einem Ort namens Zafar, hoch oben im Hügelland des Jemen, dargebracht wurde. Der «Besitzer» der Hand, Wahab Ta’lab, lässt uns wissen, dass er zu einem Clan gehört und dass dieser Clan seinerseits Teil einer größeren Stammesgemeinschaft ist, deren Gott Ta’lab war. Wahab Ta’lab trug seinen Namen also offenbar nach seinem eigenen Gott, und als weiteres Zeichen seines Glaubens hat er seine Hand Ta’lab öffentlich mitten in der Stadt Zafar dargebracht, wo sie zusammen mit anderen Opfergaben – Menschenfiguren, Tieren, Pfeilen und Speerspitzen aus Gold, Bronze oder Alabaster

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