Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Teller sehen wir den gleichen Hirsch in seinen letzten Zügen. Das gesamte Bild ist eine Fantasievorstellung, von der Riesenkrone auf dem Kopf, die beim Reiten natürlich heruntergefallen wäre, bis zu der Vorstellung, dass man das eigene Reittier in vollem Lauf tötet.
Was also geschieht hier wirklich? Im Nahen und Mittleren Osten waren Jagdszenen über Jahrhunderte ein gängiges Mittel, um königliche Macht darzustellen. Assyrische Könige werden, gut geschützt in ihren Streitwagen, gezeigt, wie sie aus sicherer Entfernung tapfer Löwen töten. Schapur tut etwas anderes. Hier befindet sich der Monarch im einsamen Kampf mit dem wilden Tier, und er riskiert nicht aus sinnlosem Draufgängertum sein Leben, sondern zum Wohle seiner Untertanen. Als schützender Herrscher tötet er ganz bestimmte Arten von Tieren, die seine Untertanen bedrohten – Raubkatzen, die Vieh und Geflügel rissen, Wildschweine und Hirsche, die Getreidefelder und Weiden verwüsteten. Darstellungen wie diese sind also visuelle Metaphern königlicher Macht, wie sie nach zoroastrischer Vorstellung aussehen sollte. Indem er das Wild tötet, zwingt der Jäger-König dem dämonischen Chaos eine göttliche Ordnung auf. Schapur, der als Vertreter der obersten zoroastrischen Gottheit agiert, wird die Kräfte des Ur-Bösen besiegen und damit seine zentrale Funktion als König erfüllen.
Guitty Azarpay, Professorin für asiatische Kunst an der University of California in Berkeley, verdeutlicht die Doppelrolle des Königs:
«Es handelt sich sowohl um ein säkulares Bild – weil natürlich die meisten Menschen in den meisten Ländern, insbesondere in Iran, Freude am Jagen hatten – als auch um den Ausdruck der damaligen zoroastrischen Ideologie. Der Mensch ist Gottes Waffe gegen die Finsternis und das Böse, und er dient dem endgültigenSieg des Schöpfers, indem er sich an das Prinzip des rechten Maßes hält und ein Leben führt, das von gutem Reden, guten Worten und guten Taten bestimmt ist. Damit kann der fromme Zoroastrier auf die bestmögliche Existenz in diesem Leben und spirituell auf das beste Paradies im Jenseits hoffen. Der beste König ist derjenige, der als Staatsoberhaupt und Glaubenswächter für Gerechtigkeit und Ordnung sorgt und der sich als oberster Krieger und heldenhafter Jäger erweist.»
Dieser Teller soll eindeutig nicht nur betrachtet werden, sondern man will mit ihm prunken. Es handelt sich um ein ostentativ teures Objekt, das aus einem einzigen schweren Stück Silber gefertigt ist, und die Figuren wurden von der Rückseite in Hochreliefform punziert. Die unterschiedlichen Oberflächenstrukturen wurden vom Produzenten wunderbar gestaltet, denn für den Leib des Tieres und die Kleidung des Königs verwendete er unterschiedliche Stichel. Und die Kernelemente der Szene – Krone und Kleidung des Königs, Köpfe, Schwänze und Hufe der Hirsche – sind golden hervorgehoben. Im flackernden Kerzenschein eines Banketts dürfte das Gold die ganze Szene belebt und die Aufmerksamkeit auf den zentralen Konflikt zwischen dem König und dem Tier gelenkt haben. So wollte Schapur gesehen werden und so wollte er seine Königsherrschaft verstanden wissen. Derartige Silberteller wurden von den Sassaniden-königen in riesigen Mengen verwendet und als diplomatische Geschenke überall in Asien verteilt.
Doch Schapur schickte nicht nur Silberteller mit symbolischen Darstellungen, sondern auch zoroastrische Missionare. Diese Gleichsetzung von Glauben und Staat sollte sich letztlich freilich als höchst gefährlich erweisen, insbesondere nachdem die Sassaniden-Dynastie hinweggefegt und Iran von den Truppen des Islam erobert worden war. Noch einmal Tom Holland:
«Der Zoroastrismus hat in der Tat Flagge gezeigt für die Sassaniden. Er definierte sich selbst über das Imperium und über die Monarchie. Und als die zusammenbrechen, ist der Zoroastrismus ebenfalls schwer angeschlagen. Zwar wurde er im Laufe der Zeit toleriert, genoss jedoch niemals das gleiche Maß an Respekt, das der Islam gegenüber den Christen oder den Juden zeigte. Ein weiteres Problem war, dass die Christen – selbst diejenigen, die unter islamische Herrschaft geraten waren – auf unabhängige christliche Reiche oder christliche Königtümer blicken konnten, sie also wussten, dass so etwas wie eine Christenheit noch immer existierte.Diese Möglichkeit hatten die Zoroastrier nicht – alle Gegenden, die zoroastrisch gewesen waren, waren vom Islam erobert worden. Selbst heute sind
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