Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
dieses Zauberreich, das fast so unwirklich schien wie die Paläste in dem Ritterbuch Amadis. Hoch und stolz ragten die festgemauerten, steinernen Türme, Tempel und Häuser mitten aus dem Wasser. Einige unserer Männer meinten, das seien alles nur Traumgesichte.»
Der kostbare Türkis stand im Mittelpunkt prunkvoller Rituale, die gleichermaßen beeindrucken wie einschüchtern sollten – Teil der «Angst und Schrecken»-Strategie, mit deren Hilfe autoritäre Regime ihre Macht festigen. Wir verdankendieses Wissen den Aufzeichnungen des spanischen Dominikanerbruders Diego Durán, eines Freundes und Bewunderers der Azteken, der ihre Sprache erlernte und der Nachwelt ihre Kultur und Geschichte überlieferte. Daher können wir, obwohl er Spanier war, sicher davon ausgehen, dass seine Beschreibung einer Zeremonie im Rahmen einer Tributübergabe authentisch ist:
«Die Menschen kamen mit ihren Abgaben in Form von Gold, Edelsteinen, Schmuck, Federn und kostbaren Steinen von höchstem Wert und in großen Mengen … Reichtümer von solcher Fülle, dass sie nicht gezählt noch geschätzt werden konnten. Das alles geschah, um vor ihren Feinden, ihren Gästen und Fremden ihre Größe und ihre Macht zur Schau zu stellen und ihnen Angst und Schrecken einzuflößen.»
Der Türkis war auch allgegenwärtig in den Insignien des Herrschers Moctezuma II., der bei seinen häufig und pompös begangenen Menschenopfern ein Türkisdiadem, Nasenschmuck aus Türkis sowie einen mit Türkisperlen bestickten Lendenschurz trug. Die doppelköpfige Schlange wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit anlässlich feierlicher Zeremonien wie dieser getragen, vielleicht sogar bei seiner Thronbesteigung im Jahr 1502. Dafür, dass dieses Schmuckstück einen hohen Symbolwert besessen haben muss, spricht nicht nur die Verwendung des kostbaren Türkises, sondern auch die Tatsache, dass es als Fabeltier in Form einer Schlange gestaltet ist. Die Dichterin und Schriftstellerin Adriana Díaz Enciso spricht über den Zusammenhang zwischen der Schlange und den aztekischen Göttern, vor allem dem großen gefiederten Schlangengott Quetzalcóatl:
«Die Schlange galt bei den Azteken als Symbol der Erneuerung und des Wiedererwachens. Im Quetzalcóatl-Tempel von Tenochtitlán gibt es Reliefbilder von Schlangen, aus deren Maul sich Wasser auf Getreide ergießt, damit es wachsen kann. Sie wurde also mit Fruchtbarkeit assoziiert. Schlangen tauchen auch in Wandmalereien in Pyramiden und Tempeln auf. Viele Skulpturen und Zeichnungen zeigen Quetzalcóatl als Schlange, deren Leib mit Federn bedeckt ist. Die Verschmelzung des heiligen Vogels Quetzal mit der Schlange, die als Symbol der Erde galt, steht für die Vereinigung der Mächte von Himmel und Erde und ist damit in gewissem Sinne auch ein Symbol der Ewigkeit und der Erneuerung.»
Wenn wir uns die doppelköpfige Schlange noch einmal genauer ansehen, erkennen wir, dass die winzigen Türkisfragmente eine sehr ähnliche Farbe habenwie die blaugrünen Schwanzfedern des Quetzal, und sie wurden mit Bedacht so geschnitten und abgeschrägt, dass sie einen ebenso schillernden Glanz entfalten wie diese. Möglicherweise ist unsere doppelköpfige Schlange tatsächlich eine Darstellung des Gottes Quetzalcóatl, und wenn dem so ist, steht sie in unmittelbarem Zusammenhang mit den folgenschweren Ereignissen, die das Auftauchen des spanischen Konquistadors Hernán Cortés in Mexiko nach sich zog.
In spanischen Aufzeichnungen aus dieser Zeit wird die erste Begegnung zwischen Cortés und Moctezuma beschrieben, und es wird darin vermerkt, Moctezuma habe Cortés irrtümlich für den wiederkehrenden Gott Quetzalcóatl gehalten. Einer aztekischen Legende zufolge war Quetzalcóatl in die Weiten des Atlantischen Ozeans hinausgeschwommen und würde eines Tages in Gestalt eines bärtigen, hellhäutigen Mannes zurückkehren; so ist es kein Wunder, dass Moctezuma, statt seine Truppen zusammenzuziehen, Cortés mit Ehrerbietungen und kostbaren Geschenken überhäufte, die eines Gottes würdig waren. Dazu gehörte den Berichten zufolge ein «Schlangenstab mit Türkis-Intarsien», bei dem es sich ohne Weiteres um unsere doppelköpfige Schlange gehandelt haben könnte.
Die Wahrheit wird sicher nie restlos ans Licht kommen. Eines ist jedoch sicher: Das Abgaben- und Besteuerungssystem der Azteken stieß auf erbitterte Widerstände und veranlasste viele der unterworfenen Völker, sich mit den spanischen Eroberern zu verbünden. Ohne die Unterstützung dieser
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