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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Ägypten stammen, die anderen vermuteten im Volk von Benin einen der verlorenen Stämme Israels. Wieder andere waren überzeugt, dass die Entstehung der Skulpturen auf europäische Einflüsse zurückzuführen war (schließlich waren sie in der Zeit von Michelangelo, Donatello und Cellini entstanden). Aber der Forschung gelang bald der Nachweis, dass die Reliefplatten aus Benin rein westafrikanische Schöpfungen waren, die ohne jedes europäische Zutun zustande gekommen waren. Die Europäer mussten ihr Selbstverständnis von der eigenen kulturellen Überlegenheit revidieren und über Bord werfen.
    Es ist erstaunlich, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die weitgehend gleichberechtigten und friedlichen Handelsbeziehungen zwischen Europa und Westafrika, die sich im 16. Jahrhundert herausgebildet hatten, fast spurlos aus dem europäischen Gedächtnis verschwunden waren. Vermutlich lag es daran, dass die Beziehung später vom transatlantischen Sklavenhandel geprägt war und noch später vom europäischen Gezerre um Afrika, in dem die Strafexpedition von 1897 nur eine von vielen blutigen Episoden war. Dieser Überfall und die Erbeutung einiger der großen Kunstwerke von Benin mögen die Kultur des Königreichs in der Welt bekannt gemacht und ihr Bewunderung eingebracht haben, sie haben aber eine Wunde im Bewusstsein vieler Nigerianer hinterlassen – eine Wunde, die bis heute schmerzt, wie der nigerianische Autor und Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka erklärt:
    «Wenn ich eine Benin-Bronze sehe, denke ich unwillkürlich an die meisterhafte Verschmelzung von Technik und Kunst. Ich denke unwillkürlich an eine homogene alte Kultur. Es stärkt mein Selbstbewusstsein, weil es mir zeigt, dass die afrikanische Gesellschaft tatsächlich großartige Zivilisationen, große Kulturen hervorgebracht hat, und es sensibilisiert uns heute für das Gefühl der Erniedrigung, das manche afrikanischen Gesellschaften in einem solchen Maße befallen hat, dass wir vergessen haben, wie es vor dem feindlichen Einfall fremder Mächte war, als wir eine funktionsfähige Volksgemeinschaft waren. Die Beutestücke sind bis heute politisch befrachtet. Die Benin-Bronzen gehören, wie andere Kunstgegenstände auch, zur Politik des heutigen Afrika und natürlich insbesondere Nigerias.»
    Die Relieftafeln aus Benin, diese kraftvollen Objekte, berühren uns heute noch genauso, wie sie es taten, als sie vor hundert Jahren nach Europa kamen. Es sind faszinierende Kunstwerke, sichtbarer Beweis dafür, dass Europa und Afrika im 16. Jahrhundert fähig waren, als gleichberechtigte Partner miteinander umzugehen, aber auch umkämpfter Gegenstand in der Geschichte des Kolonialismus.

78
Doppelköpfige Schlange
    Mosaik-Statuette, aus Mexiko
1400–1600 n. Chr.
    Wer heutzutage nach Mexiko-Stadt kommt, wird kaum einer Begegnung mit Straßenmusikanten entgehen, die, mit Federn geschmückt und mit Körperfarbe bemalt, Trommeln im aztekischen Stil schlagen. Diese Straßenmusikanten spielen nicht nur zur Unterhaltung der Passanten: Ihr Anliegen ist es auch, die Erinnerung an das Aztekenreich, diesen mächtigen, hochentwickelten Staat, der im 15. Jahrhundert das Gebiet des heutigen Mexiko beherrschte, lebendig zu halten. Sie nehmen für sich in Anspruch – und man kann es ihnen glauben oder nicht –, Nachfahren von Moctezuma II. zu sein, dem Herrscher, dessen Reich 1521 im großen Eroberungszug der Spanier vernichtet wurde.
    Während des spanischen Eroberungszugs wurde vieles zerstört, das die aztekische Kultur hervorgebracht hatte. Wie viel wissen wir also wirklich über die Azteken, denen diese Straßenmusikanten huldigen? Sämtliche Berichte über das Aztekenreich stammen von den spanischen Eroberern und müssen insofern mit der gebotenen Skepsis aufgenommen werden. Umso wichtiger ist es, unverfälschte aztekische Quellen zu Rate ziehen zu können, Gegenstände also, die von den Azteken selbst geschaffen wurden und bis heute erhalten sind. Solche Gegenstände sind die Überlieferungen des bezwungenen Volkes, und durch sie spricht dieses Volk zu uns.
    Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ahnten die Azteken natürlich nicht, dass sie dem Untergang geweiht waren – ihr junges, dynamisches Reich herrschte über territoriale Gebiete und Handelswege, die sich von Texas im Norden bis nach Guatemala im Süden erstreckten und den größten Teil des heutigen Mexiko umfassten. Die blühende Kultur der Azteken brachte wunderbare Kunstwerke hervor, die in ihren Augen

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