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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Katholiken hatten sie keine übergeordnete Instanz, an der sich die Gläubigen hätten orientieren können. Sie mussten nach anderen Möglichkeiten suchen, ihre Botschaft zu verbreiten, die da lautete: Die Reformation gehört zum Plan Gottes für die Welt, die Menschen brauchen keine Priester, um Gottes Gnade zu erlangen, die katholische Kirche ist korrupt, und Luthers Reformation ist eine unentbehrliche Voraussetzung für das Seelenheil aller Menschen. Und vor allem mussten sie eine Sicht ihrer Vergangenheit finden, die ihnen die Kraft gab, der furchterregenden Zukunft ins Auge zu blicken.

    Vor dieser Zeit hatte man den Beginn der Reformation auf keinen bestimmten Tag oder Augenblick festgelegt. Aber führende sächsische Protestanten stellten fest, dass seit dem heroischen Moment am 31. Oktober 1517, als Luther erstmals die Autorität des Papstes in Frage gestellt und seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt hatte, hundert Jahre ins Land gegangen waren. Also organisierten sie mit einem unfehlbaren Gespür für mediale Wirkung die erste Hundertjahrfeier im modernen Sinne. Das ganze übliche Tamtam wurde zu diesem Anlass aufgeboten: Feste und Prozessionen, Erinnerungsstücke, Medaillen und Gemälde, Drucke mit Predigttexten und unser Flugblatt – ein Einblattdruck zur Erinnerung an jenen entscheidenden Tag, den die Protestanten jetzt als erste Station ihrer kompromisslosen religiösen Reise ansahen.
    Auf dem Flugblatt wimmelt es von Szenen, aber die Botschaft ist klar: Im Traum offenbart Gott dem sächsischen Kurfürsten die historische Bedeutung Martin Luthers. Wir sehen den Kurfürsten schlafend. Weiter unten im Bild liest Luther die Bibel in einem breiten Lichtstrahl, der vom Himmel auf ihn herunterfällt, während ihm die Heilige Dreifaltigkeit ihren Segen erteilt. Als Luther aufblickt, wird die Seite, die aufgeschlagen vor ihm liegt, in gleißendes Licht getaucht: Das Buch ist hier das Wort Gottes, und wer das Buch liest, wird Gott schauen – und das spielt sich nicht in einer Kirche ab. Einfacher könnte man den Gedanken nicht ausdrücken, dass Protestanten die Bibellektüre als Grundlageihres Glaubens betrachteten, eine Grundlage, die den Gläubigen dank der Entwicklung neuer Drucktechniken nun auch zu Hause zur Verfügung stand.
    Unser Flugblatt wurde in der Stadt Leipzig gedruckt, die im Jahr 1617 ein bedeutendes europäisches Handelszentrum war. Wie die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong bemerkt, hatte sich dadurch, dass die Lektüre der Heiligen Schrift so in den Vordergrund getreten war, das religiöse Leben der Menschen in Nordeuropa grundlegend verändert:
    «An diesem Bild fällt auf, dass die Bedeutung des geschriebenen Wortes sehr betont wird. Bis zu diesem Zeitpunkt war es in der religiösen Praxis darum gegangen, auf das zu hören, was sich hinter der Sprache verbirgt. Die Menschen hatten nicht im Sinne von Worten, Begriffen oder Beweisen gedacht, sondern vielmehr im Sinne von Bildern, Ikonen, Musik und Handlungen. Durch die Erfindung des Buchdrucks, der es Luther möglich machte, seine Ideen zu verbreiten, bekamen die Worte ein viel größeres Gewicht. Und das ist seither immer das Problem der westlichen Religionen gewesen, dass wir in Worten gefangen sind. Der Buchdruck schuf die Voraussetzung dafür, dass zum ersten Mal in der Geschichte jeder seine eigene Bibel besitzen konnte, und das bedeutete, dass sie plötzlich vollkommen anders gelesen wurde.»
    Ohne den Buchdruck wäre die Reformation möglichweise nicht von Dauer gewesen, und die Mischung aus Text und Illustration zeigt, dass neben den Worten die Bilder immer noch eine bedeutende Rolle spielten. Im 17. Jahrhundert war das Analphabetentum in Europa noch weit verbreitet – selbst in den Städten konnte höchstens ein Drittel der Bewohner lesen –, weshalb bebilderte Drucke mit einigen wenigen Schlüsselworten das effektivste Mittel der Massenkommunikation waren. Auch in unserer Zeit kann eine gut gezeichnete Karikatur in der öffentlichen Wahrnehmung eine vernichtende Wirkung haben.
    Im Vordergrund des Flugblatts sieht man Luther, wie er mit der größten Feder der Welt die Worte «Vom Ablass» auf die Kirchentür schreibt, mit denen sein glühender Aufruf gegen den ausufernden Ablasshandel der katholischen Kirche überschrieben ist – gegen ein System, das den Menschen einen verkürzten Aufenthalt ihrer Seelen im Fegefeuer in Aussicht stellte, wenn sie im Leben bestimmte Summen baren Geldes an

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