Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
immer noch eine große Rolle. Ungeachtet der großen kommunistischen und antiklerikalen Revolutionen des 20. Jahrhunderts ist Mexiko nach wie vor untrennbar mit dem Katholizismus verbunden, wie der mexikanischstämmige Historiker Fernando Cervantes betont:
«In Mexiko gibt es starke antiklerikale nationalistische Strömungen, aber die Menschen sind ambivalent, weil selbst ein durch und durch atheistischer Mexikaner beispielsweise nie abstreiten würde, dass er die Jungfrau von Guadalupe verehrt. An diesem Punkt bricht der untergründig vorhandene Katholizismus mit Macht durch. Es wäre die Quadratur des Kreises, würde man es schaffen, alsMexikaner nicht in irgendeiner Weise katholisch zu sein. Daran kann man meines Erachtens sehen, wie effektiv die frühen Missionierungsversuche waren und wie stark sie bis heute nachwirken.»
All das, wovon Fernando Cervantes spricht, ja alles, was unsere kleine Landkarte über die Christianisierung Mexikos erzählt, ist in kolossalem Maßstab in der Basilika von Guadalupe, einem Vorort von Mexiko-Stadt, zusammengefasst. Sie ist dem Vatikan zufolge die meist besuchte katholische Wallfahrtsstätte der Welt. An dieser Stelle, an der sich zuvor ein aztekischer Tempel befand, erschien die Jungfrau Maria im Dezember 1531, nur zehn Jahre nach der Eroberung, einem jungen Azteken, den die Spanier Juan Diego nannten. Sie bat ihn, ihr zu vertrauen, und plötzlich erschien durch ein Wunder ihr Abbild auf seinem Mantel. An der Stelle der Marienerscheinung wurde eine Kirche errichtet, das Bild auf dem Mantel brachte weitere Wunder hervor, und die Indios traten zuhauf zum katholischen Glauben über. Die Gläubigen strömten in Scharen nach Guadalupe. Lange Zeit argwöhnte der katholische Klerus, die Menschen würden nach wie vor der aztekischen Göttin huldigen, deren Tempel zuvor an dieser Stelle gestanden hatte; doch die vereinten Kräfte der beiden Religionen erwiesen sich über die Jahrhunderte als unbesiegbar. Heute strömen so viele Besucher nach Guadalupe, dass man das Marienbild nur von einem Rollband aus betrachten kann. 1737 erklärte Papst Benedikt XIV. die Jungfrau von Guadalupe zur Schutzpatronin von Mexiko, und 2002 wurde Juan Diego, der Azteke, der noch unter Moctezumas Regentschaft geboren worden war, von Papst Johannes Paul II. in die Schar der Heiligen der römisch-katholischen Kirche aufgenommen.
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Flugblatt zum hundertjährigen
Reformationsjubiläum
Holztafeldruck, aus Leipzig
1617 n. Chr.
Man kann heutzutage kaum das Radio einschalten oder eine Zeitung aufschlagen, ohne mit irgendeinem Jubiläum konfrontiert zu werden – hundert Jahre dies, zweihundert Jahre jenes. Unsere populäre Geschichtsschreibung scheint sich zunehmend aus hundertjährigen Jubiläen zusammensetzen, die in überbordendem Erinnerungseifer mit Büchern und Ausstellungen, T-Shirts und Andenken gefeiert werden. Wie fing diese Vorliebe für Jubiläumsfeiern an? Die Antwort auf diese Frage bringt uns zu dem großen Kampf um religiöse Freiheiten, der im 17. Jahrhundert in ganz Nordeuropa ausgetragen wurde. Die erste dieser Hundertjahrfeiern wurde offenbar 1617 in Sachsen ausgerichtet; das Ereignis, an das erinnert werden sollte, hatte hundert Jahre früher stattgefunden. Im Jahr 1517 nahm Martin Luther, so die Überlieferung, einen Hammer zur Hand und nagelte sein religiöses Manifest – die 95 Thesen – an eine Kirchentür; damit gab er den Anstoß zu den religionspolitischen Unruhen, die schließlich in der protestantischen Reformation gipfelten. Das Objekt, das wir in diesem Kapitel vorstellen, ist ein großer Einblattdruck, der zur Erinnerung an Luthers berühmten Thesenanschlag anlässlich des hundertjährigen Jubiläums dieses Ereignisses herausgegeben wurde. Und es geht darin nicht nur um eine Jubiläumsfeier, sondern um den Aufruf an alle Protestanten, sich für einen Krieg zu rüsten.
1617, als dieses Flugblatt entstand, blickten die Protestanten Europas in eine ungewisse und gefahrvolle Zukunft. Der Papst hatte das neue Jahr mit öffentlichen Gebeten eingeläutet, in denen er zur Wiedervereinigung der Christenheit und zum entschlossenen Kampf gegen das Ketzertum aufrief. Genau genommenrief er die katholische Kirche gegen die Reformation zu den Waffen. Den meisten Menschen war klar, dass Europa am Rande eines furchtbaren Religionskrieges stand. In dieser Situation suchten die Protestanten nach einem Weg, möglichst viele Kampfgenossen zusammenzutrommeln, aber im Gegensatz zu den
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