Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Indios verehrte Dämonenfiguren zertrümmert und niedergebrannt.»
Die beiden Kirchen Santa Barbara und Santa Ana beherrschen das Bild unserer Landkarte; eine ist erkennbar auf den Ruinen eines zerstörten Tempels errichtet. Der Kunsthistoriker Samuel Edgerton beschreibt den Vorgang so:
«Viele dieser mexikanischen Kirchen wurden auf dem Podest eines alten heidnischen Tempels errichtet. Das war ein sehr schlauer Schachzug, da es dazu beitrug, dass sich die Indios in den neuen Kirchen, die buchstäblich auf den alten Tempeln standen, wohlfühlen konnten. Die Kirche in der Mitte der Karte hat einen großen Vorhof, den man heute als Atrium oder Patio bezeichnet. Das war eine Neuerung, die die Ordensbrüder beim Bau der mexikanischen Kirchen einführten, weil diese anfangs oft so klein waren, dass die Indianer, die man massenhaft heranschaffte, um sie zu bekehren, keinen Platz darin fanden. Also ließ man sie in dem großen Hof Aufstellung nehmen und predigte aus dem offenen Gotteshaus zu ihnen – damals war es leichter für die Kirche, als ‹Stätte der Bekehrung› zu fungieren.»
Die Kirchen auf unserer Karte – diese Stätten der Bekehrung – wurden in eine Landschaft existierender Straßen, Flüsse und Häuser hineingebaut. Die Namen von Personen und Orten sind in einer Mischung aus Spanisch und Nahuatl, derSprache der Einheimischen, vermerkt: Beispielsweise steht die Santa-Barbara-Kirche in einem Dorf namens Santa Barbara Tamasolco.
Tamasolco
heißt so viel wie «Platz der Kröte», was mit Sicherheit eine vorchristliche religiöse Bedeutung hat, die in Vergessenheit geraten ist. Der Künstler hat eine Kröte auf die Karte gemalt, und die beiden religiösen Traditionen leben in dem ausgefallenen Ortsnamen «Santa Barbara am Platz der Kröte» fort.
Offensichtlich lebten sie auch im Gedächtnis der Bekehrten fort. In einem Text der Karte heißt es: «Juan Bernabe sagte zu seiner Frau: ‹Meine Schwester, lass uns etwas für das Seelenheil unserer Nachfahren tun, lass uns die Weiden pflanzen, die unser Gedächtnis sein werden.›» In dieser poetischen Äußerung seines inneren Glaubens offenbart Juan Bernabe, der immerhin zwei christliche Namen trägt, seine Überzeugung, dass seine Kinder ihr Heil eher in der natürlichen Welt des alten Glaubens finden werden als in der katholischen Kirche des Dorfes – oder doch zumindest genauso gut wie dort.
Die Kinder, die in «Neuspanien», wie es die Eroberer nannten, geboren wurden, erhielten wie Juan Bernabe bei der Taufe christliche Namen, aber das machte aus ihnen – auch das hatten sie mit Juan Bernabe gemein – nicht unbedingt gute Katholiken. Später wurde hart durchgegriffen gegen die immer noch praktizierten heidnischen Bräuche – Beschwörungsrituale, Wahrsagerei und Maskentänze wurden als Zauberei und Götzenkult bestraft. Doch vieles überlebte dank der Beharrlichkeit der Einheimischen. Das eindrucksvollste Beispiel ist die Verschmelzung des vorchristlichen Ahnenkults und des christlichen Allerheiligenfestes zum Tag der Toten, einem durch und durch mexikanischen Feiertag, der alljährlich am 2. November mit Musik, Tanz, Verkleidung, Opfergaben, Gebäck in Form von Skeletten und Totenköpfen und gutem Essen begangen wird – ein Brauch, der seine Wurzeln mindestens ebenso in den religiösen Traditionen der Indios hat wie im katholischen Glauben.
Nahuatl, die in unserer Karte verwendete Sprache der indigenen Bevölkerung, hat nur mit Mühe überlebt. Eine im Jahr 2000 durchgeführte Volkszählung hat erbracht, dass sie nur noch von 1,49 Prozent der Menschen in Mexiko gesprochen wird. Allerdings hat der Bürgermeister von Mexiko-Stadt erst jüngst im Rahmen eines Programms zur Wiederbelebung der alten Sprache den Vorschlag gemacht, alle städtischen Bediensteten sollten Nahuatl lernen. Tatsächlich habensich ein paar Begriffe aus dem Nahuatl bis heute gehalten – auch wenn sicher nur den wenigsten bewusst ist, dass sie Nahuatl benutzen, wenn sie von Tomaten, Schokolade oder Avocados sprechen. Religiöse Begriffe aus dem Nahuatl sind bezeichnenderweise nicht überliefert – dafür hat das Wirken der Missionare gesorgt.
Menschen strömen in Scharen zur Basilika der Jungfrau von Guadalupe.
Fünfhundert Jahre nach der Eroberung sind Mexikaner heute zunehmend daran interessiert, ihre präkolumbianische Vergangenheit als Teil der nationalen Identität ihres Landes wiederzubeleben. Doch im religiösen Leben spielt das Erbe der christlichen Bekehrung
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