Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Reich der Azteken rissen die Eroberer die alten Tempel nieder und errichteten Kirchen auf den Ruinen. Es war die Verdrängung einer Kultur durch eine andere, wie sie brutaler und radikaler nicht hätte sein können.
Am Zócalo, dem Hauptplatz in Mexiko-Stadt, erhebt sich die einstige Residenz des spanischen Vizekönigs an eben der Stelle, an der zuvor Moctezumas Palast stand. Ganz in der Nähe befindet sich der sakrale Grund eines zerstörten aztekischen Tempels, der jetzt fast vollständig von dem mächtigen spanischen Barockbau der Marienkathedrale eingenommen wird.
Nimmt man den Zócalo als Maßstab, sieht es so aus, als habe sich die Eroberung Mexikos durch die Spanier im Jahr 1521 in jeder Hinsicht als verheerend für die Traditionen der einheimischen Bevölkerungen erwiesen, und so wird die Geschichte im Allgemeinen auch kolportiert. Die Wahrheit ist wesentlich differenzierter und vielleicht auch interessanter. Die Einheimischen behielten ihreSprache – und größtenteils auch ihren Grund und Boden, obwohl die von den Spaniern unwissentlich eingeschleppten tödlichen Krankheiten dafür sorgten, dass sehr viel Land zur Besiedelung durch die spanischen Neuankömmlinge frei wurde. Das Objekt, das wir in diesem Kapitel vorstellen, zeigt ein Stück weit, wie die komplexe Verschmelzung der Religionen vonstatten ging, und es zeugt sowohl vom kolonialistischen Vorgehen der Spanier als auch von der Widerstandskraft der einheimischen Traditionen.
Das Objekt ist eine etwa 70 Zentimeter breite und 50 Zentimeter hohe, mit Texten versehene Karte auf sehr rauem Papier, hergestellt aus der flachgeklopften Rinde des Feigenbaums. Auf der Karte verlaufen zu Rechtecken geordnete Linien, vermutlich Feldparzellen, in denen die Namen der Besitzer verzeichnet sind. Sie zeigt außerdem einen schmalen blauen Fluss mit Wellenlinien sowie eine gegabelte Straße mit Fußabdrücken, an denen man sieht, dass es sich um eine Durchgangsroute handelt. Überlagert wird diese beschriftete Zeichnung von gegenständlichen Darstellungen – in der Mitte ein Baum, darunter drei europäisch gekleidete Gestalten, außerdem zwei große Kirchen mit Glockenturm in den Farben Blau, Rosa und Gelb, die auch das Gesamtbild der Karte bestimmen. Die Namen der beiden Kirchen lauten Santa Barbara und Santa Ana.
Die Karte stellt eine Region im Staat Tlaxcala östlich von Mexiko-Stadt dar, dessen Bewohner sich erbittert gegen die aztekische Unterdrückung aufgelehnt hatten und es folglich gar nicht erwarten konnten, den spanischen Eindringlingen zum Sieg gegen die Azteken zu verhelfen (siehe Kapitel 78). Das erklärt vielleicht auch, warum so viele der auf der Karte verzeichneten Namen auf Eheschließungen zwischen spanischen Siedlern und Angehörigen der indianischen Oberschicht hindeuten, Zeichen einer bemerkenswerten Vermischung der beiden Völker, aus der sich eine neue herrschende Klasse entwickelte. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass in der Kirche ein ähnlicher Prozess der Verschmelzung stattfand. Beispielsweise wurde in der Gegend von Tlaxcala Toci, die Großmutter der mexikanischen Götter, verehrt, deren Platz als Schutzpatronin nach der Eroberung die Heilige Anna (Santa Ana) einnahm, die in der christlichen Überlieferung die Großmutter Jesu ist. Die Großmutter mag wohl ihren Namen geändert haben, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie in den Augen der Einheimischen ihr Wesen in irgendeiner maßgeblichen Weise verändert hat.
Abgesehen von den eingeschleppten Krankheiten waren es die katholischen Missionare im Gefolge der spanischen Eroberer, die das Leben der einheimischen Bevölkerung unter den Spaniern am nachhaltigsten beeinflussten und die religiöse Landschaft veränderten. Während die Eroberung auf vielen Gebieten gewaltsam vonstatten ging, wurde bei der Bekehrung der Einheimischen zum Katholizismus im Allgemeinen kein Zwang ausgeübt: Da die Missionare der ehrlichen Überzeugung waren, den Menschen den wahren Glauben zu bringen, war eine erzwungene Bekehrung in ihren Augen wertlos. Selbst wenn viele Indios freiwillig zu dem neuen Glauben übertraten, hätten sie der Zerstörung ihrer heiligen Stätten wohl kaum freudig zugestimmt. Aber genau das war ein entscheidender Aspekt der spanischen Kolonialpolitik. Ein Franziskaner äußerte sich zehn Jahre nach der spanischen Eroberung begeistert über den Siegeszug der Kirche in Mexiko:
«Mehr als 250.000 Männer wurden getauft, 500 Tempel zerstört und mehr als 26.000 von den
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