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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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ihrer Zahnbürste den Takt angab, während ihre Mitstreiterinnen zu gymnastischen Übungen ihr Lied sangen.
    Die besseren Kreise Großbritanniens sahen fassungslos zu, wie ehrbare Frauen vorsätzlich gegen das Gesetz verstießen. Das ging weit über die schon gewohnten Plakate, Pamphlete, Kundgebungen und Lieder hinaus. Das Verfälschen einer staatseigenen Münze war ein subtileres Vergehen, bei dem es keine offensichtlichen Opfer gab, das aber einen vielleicht noch wirkungsvolleren Angriff gegen die Obrigkeit eines Staates darstellte, der den Frauen die Teilnahme am politischen Leben verwehrte. Als Kampfstrategie war es geradezu ein Geniestreich. Die Künstlerin Felicity Powell ist fasziniert von diesem subversiven Gebrauch von Münzen und Medaillen:
    «Es ist eine geniale Idee, weil es sich die Tatsache zunutze macht, dass Münzen in Umlauf gebracht, also in kurzer Zeit weit verbreitet werden, ein bisschen wie das Internet heute. Pennys waren wahrscheinlich die am häufigsten benutzten Münzen, und darum war es einfach brillant, die Botschaft mit ihrer Hilfe auf subversivem Weg unters Volk zu bringen, als Agitation für die einen und als Provokation für die anderen.
    Diese Münze macht bewusst Gebrauch von der Tatsache, dass Münzen zwei Seiten haben, die nicht gleichzeitig sichtbar sind. Auf der einen Seite ist Britannia als stolze, starke Frau zu sehen, die die britische Nation verkörpert. Diese Seite istnicht verfälscht. Und es hat echtes, subversives Schockpotenzial, wenn man die Münze dann umdreht und die andere Seite sieht.»
    Auf der anderen Seite sieht man Eduard VII. im Profil – mit Halbglatze und Vollbart, den Blick in die Ferne gerichtet. Er ist Anfang sechzig, die Münze ist auf 1903 datiert. Rund um den äußeren Rand läuft eine lateinische Inschrift, die übersetzt lautet:
Eduard VII. von Gottes Gnaden, König von Großbritannien, Verteidiger des Glaubens, Kaiser von Indien
. Ein bombastischer Titel, der sowohl altangestammte Rechte als auch neu erworbene Kolonialmacht hervorhebt – eine über Jahrhunderte geschaffene und von Gott abgesegnete politische Ordnung. Doch quer über sein Gesicht verläuft, angefangen über dem Ohr, in wackliger Linie das in Großbuchstaben eingestanzte Wort VOTES, darunter steht das Wort FOR und auf dem Hals das Wort WOMEN. Eine Suffragette hat die Buchstaben einzeln mit verschiedenen Stempeln in die Münze eingehämmert. Dazu musste sie erheb liche Kraft aufwenden, und diese rohe Kraft ist im Ergebnis sichtbar, wie Felicity Powell bemerkt:
    «Das Gesicht des Königs wurde buchstäblich entstellt. Und ich finde es interessant, wie das Ohr plötzlich in den Vordergrund rückt. Die Buchstaben sind so eingehämmert, dass das Ohr weitgehend frei bleibt, und es ist ein bisschen so, als würde man ihn fragen: ‹Hörst du auch zu?› Das ist echt stark.»
    Unser Bronzepenny wurde in dem Jahr verfälscht, in dem radikale Frauenrechtlerinnen, unter ihnen Emmeline Pankhurst und ihre Tochter Christabel, die Women’s Social and Political Union (WSPU) gründeten. Es hatte schon vorher verschiedene Aktionsgruppen gegeben, aber keine hatte mit ihren friedlichen Mitteln ihr Ziel erreichen können. Dreiunddreißig Jahre zuvor hatte Emmelines Mann dem Parlament den ersten Gesetzentwurf zum Frauenwahlrecht vorgelegt, der im Unterhaus gute Aussichten auf Erfolg zu haben schien, bis Premierminister William Gladstone seine ablehnende Haltung dazu bekundete:
    «Ich habe nicht die Befürchtung, dass die Frau die Macht des Mannes an sich reißt. Die Befürchtung, die ich habe, ist vielmehr, dass wir sie ungewollt ermutigen, gegen die Zartheit, die Reinheit, die Vornehmheit, die Erhabenheit ihres eigenen Wesens zu handeln, die gegenwärtig die Quellen ihrer Macht sind.»
    Indem er die Zartheit und Vornehmheit der Frauen beschwor, appellierte Gladstone wohlkalkuliert an die herkömmlichen repressiven Vorstellungen davon,wie eine Frau sich zu benehmen habe. Obwohl die Forderung nach dem Frauenwahlrecht nicht verstummte und der Gesetzentwurf noch etliche Male dem Parlament vorgelegt wurde, scheuten die meisten Frauen eine weitere Generation lang davor zurück, offen für ihre Rechte zu kämpfen und undamenhaft in die angestammten Machtsphären der Männer einzudringen.
    Doch für die Damen Pankhurst und ihre Gesinnungsgenossinnen war 1903 das Maß voll. (Zu diesem Zeitpunkt bezeichneten sie sich selbst noch als Suffragistinnen. Der Begriff Suffragetten wurde erst ein paar Jahre später von

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