Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
von außen von feindlichen Angriffen und im Innern vom Bürgerkrieg bedroht. Die Bolschewisten mussten die sowjetischen Arbeiter mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln motivieren und bei Laune halten. Eines dieser Mittel war die Kunst.
Der Künstler, der diesen Teller bemalt hat, machte sich dessen runde Form zunutze, um die symbolische Kraft des Bildes zu verstärken. Mittig im Hintergrund erhebt sich eine in roter Farbe gehaltene Fabrik – eindeutig im Besitz der Arbeiter –, aus deren Schornsteinen zum Zeichen ihrer Produktionskraft weiße Rauchschwaden quellen, während rund um die Fabrikgebäude ein gelb und orange leuchtender Strahlenkranz die dunklen Wolken der repressiven Vergangenheit vertreibt. Im Vordergrund schreitet ein Mann auf einer Hügelkuppe vom linken Rand her zur Bildmitte. Wie die Fabrikgebäude ist er von einem leuchtenden Strahlenkranz umgeben. Er ist als rote Silhouette ohne jede Einzelheit dargestellt, aber wir wissen auch so, dass er jung ist und mit glühendem Enthusiasmus nach vorne blickt. Offenkundig verkörpert er kein Individuum, sondern das gesamte Proletariat, das einer von ihm selbst geschaffenen besseren Zukunft entgegengeht. Zu seinen Füßen befindet sich ein Zahnrad, und in der Linken trägter einen Hammer, beides Symbole der industriellen Arbeit. Mit seinem nächsten Schritt wird er den Fuß auf ein kahles Stück Fels setzen, auf dem verstreut die Buchstaben des auseinandergebrochenen Wortes KAPITAL liegen. Der Teller wurde 1901, also 20 Jahre früher, hergestellt und blieb vorerst unbemalt. Der Künstler Michail Michailowitsch Adamowitsch, der ihn schließlich bemalte, machte aus einem Stück kaiserlichen Porzellans ein beredtes und wirkungsvolles Medium sowjetischer Propaganda. Dieses Umfunktionieren eines Gegenstands fasziniert den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm:
«Am interessantesten finde ich, dass man in einem Objekt das alte und das neue Regime und den Übergang vom einen zum anderen sieht. Es gibt nur wenige Objekte wie dieses, in denen der geschichtliche Wandel so gegenwärtig ist. Die Ideologie war für Künstler wichtig. Für die Leute, die in ihren eigenen Augen die Revolution gemacht hatten, war es dieses überwältigende Gefühl: Wir haben etwas getan, was kein Mensch auf der Welt je getan hat. Wir schaffen eine vollkommen neue Welt, die erst vollendet ist, wenn Russland und die Welt sich verändert haben, und das zu zeigen und uns dafür einzusetzen ist unsere Pflicht – das ist die Ideologie.»
Kurz nach dem Übergang der Macht an die Bolschewiken wurde die Kaiserliche Porzellanmanufaktur verstaatlicht. Sie hieß fortan Staatliche Porzellanmanufaktur und wurde der Aufsicht eines Beamten mit dem utopisch klingenden Titel «Volkskommissar für Aufklärung» unterstellt. In einem Brief des Kommissars der Staatlichen Porzellanmanufaktur an den Volkskommissar für Aufklärung heißt es:
«Die Porzellan- und Glasmanufakturen dürfen keine reinen Fabriken und Industrieunternehmen sein: Sie müssen Zentren der Wissenschaft und der Kunst sein. Ihr Ziel ist es, die Entwicklung der Keramik- und Glasindustrie zu fördern und neue Wege der Produktion zu suchen und zu entwickeln … und die künstlerische Form zu analysieren und zu entwickeln.»
Im Jahr 1921, als unser Teller bemalt wurde, waren die Russen dankbar für jede Botschaft der Einigkeit und Hoffnung. Im Land herrschte Bürgerkrieg. Hunger, Dürre und Not machten den Menschen zu schaffen: Mehr als vier Millionen Russen fielen der Hungersnot zum Opfer. Die verstaatlichten Fabriken produzierten nur noch einen Bruchteil dessen, was sie in vorrevolutionären Zeiten bewerkstelligthatten. Die Kunst, für die unser Teller ein Beispiel ist, bringt in Eric Hobsbawms Augen die Macht der Hoffnung in einer scheinbar hoffnungslosen Situation zum Ausdruck:
«Er wurde zu einer Zeit gemacht, in der fast alle Leute, die mit seiner Herstellung befasst waren, Hunger hatten. In der Wolgaebene herrschte eine Hungersnot, und die Menschen starben an Hunger und Typhus. Es war eine Zeit, in der man sagen würde: ‹Dieses Land liegt am Boden, wie kann es sich wieder aufrichten?› Und was wir uns vorstellen müssen, ist diese Willenskraft der Leute, es zu tun, zu sagen: Trotz allem bauen wir diese Zukunft auf, und wir blicken dieser Zukunft freudig und mit Zuversicht entgegen.»
Der Teller überbringt uns «Nachrichten aus einer leuchtenden Zukunft», wie es ein Keramikkünstler ausgedrückt hat. Im Allgemeinen
Weitere Kostenlose Bücher