Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
des Gottes bedeckt ein beeindruckender Kopfschmuck in Form eines stilisierten Maiskolbens, und sein Haar sieht aus wie die seidenen Fäden, die innerhalb der Blätterhülle aus der Spitze des Kolbens quellen.
Einige Archäologen sind der Ansicht, Nahrung habe selbst bei unseren frühesten Vorfahren stets eine göttliche Rolle gespielt – man denke nur an die ägyptische Kuhgöttin im vorangegangenen Kapitel, an Bacchus und Ceres in der klassischen Mythologie oder an Annapurna, die Nahrung spendende Göttin der Hindus. Es gibt jedoch eine ganz besondere Phase nach dem Ende der letzten Eiszeit, also grob gerechnet vor fünf- bis zehntausend Jahren, in der offenbar eine Fülle neuer Nahrungsmittel mit einer Fülle neuer Götter einherging. Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, begannen die Menschen überall auf der Welt damit, ganz bestimmte Pflanzen zu kultivieren, von denen sie sich ernähren konnten: Im Nahen Osten waren es der Weizen und die Gerste, in China Hirse und Reis, in Papua-Neuguinea Taro und in Afrika Sorghum. Und im Zuge dessen entstanden überall Geschichten über Götter: Götter des Todes und der Wiedergeburt, Götter, die für den Zyklus der Jahreszeiten sorgten und die Wiederkehrdes Getreides sicherstellten, und Götter, die für das Nahrungsmittel selbst standen, von dem ihre Anhänger sich ernährten. Unsere Büste zeugt von diesem weltweiten Prozess. In ihr materialisiert sich ein Mythos – ein Gott des Essens aus Mittelamerika.
Ursprünglich dürfte die Statue zusammen mit vielen anderen ähnlichen Göttern hoch oben auf einem pyramidenförmigen Stufentempel im Westen Honduras gestanden haben. Gefunden hat man sie in Copán, einer bedeutenden Stadt der Maya, die zugleich ein religiöses Zentrum war und deren monumentale Ruinen noch heute zu besichtigen sind. Die Tempelstatuen wurden vom damaligen Herrscher in Auftrag gegeben; sie sollten einen großangelegten Tempel schmücken, den er um 700 n. Chr. in Copán errichten ließ. Bei unserem Exemplar lässt sich deutlich ein Verbindungsstück zwischen Kopf und Körper erkennen, und wenn man genau hinschaut, wirkt der Kopf sogar fast ein wenig zu groß. Als der Tempel von Copán zerstört wurde, gingen auch alle Statuen zu Bruch. Köpfe und Körper wurden getrennt und mussten später wieder zusammengefügt werden, was bedeutet, dass dieser Kopf ursprünglich wohl nicht zu diesem Körper gehört hat. Doch das schmälert die Bedeutung dieser Statue keineswegs, denn all diese Götter zeugen davon, welch große Macht und welch zentrale Rolle dem Mais im Leben der lokalen Bevölkerung zukamen.
Unsere Statue des Maisgottes ist vergleichsweise jung – sie entstand erst 715 n. Chr. –, steht jedoch in einer sehr langen Tradition. Die Menschen in Mittelamerika hatten ihn und seine Vorgänger schon seit Tausenden von Jahren verehrt, und in seiner mythischen Geschichte spiegelt sich das alljährliche Pflanzen und Ernten des Getreides, von dem die gesamte mittelamerikanische Kultur abhing. Im Mythos wird der Maisgott ähnlich wie die Maispflanze zur Erntezeit enthauptet und anschließend wiedergeboren – frisch, jung und wunderschön zu Beginn jeder neuen Anbausaison. John Staller, Anthropologe und Mitverfasser von
Histories of Maize
, erläutert, was den Maisgott für reiche und mächtige Patrone wie die Herrscher, die unsere Skulptur in Auftrag gaben, so attraktiv und bedeutsam machte:
«Die Eliten in den Gesellschaften der Antike betrachteten das Getreide als etwas, das über heilige Eigenschaften verfügte, welche sie damals auch für sich selbst in Anspruch nahmen. Das zeigt sich ganz deutlich an dem jungen Maisgott – dieSkulptur war offensichtlich eine Manifestation mythologischer Wesen, die dem dritten Schöpfungszyklus der Götter entsprangen. Es gab insgesamt acht mythologische Wesen, vier weibliche und vier männliche, die als die Vorfahren aller Maya-Völker galten. Die Maya glaubten, ihre Vorfahren entstammten eigentlich dem Getreide und wären aus gelbem und weißem Maisteig geformt gewesen. Bei den mesoamerikanischen Völkern des Altertums konzentrierten sich Rituale und religiöse Verehrung sicherlich primär auf den Mais, eine Tradition, die weit in die Zeit vor den Maya und bis zur Olmeken-Kultur zurückreicht.»
Unser Maisgott ist somit nicht nur eine ergreifend schöne Statue: Er liefert uns darüber hinaus wichtige Einblicke, wie die amerikanische Gesellschaft des Altertums über sich und ihre Umwelt dachte. Er steht sowohl für
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