Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
man vermutlich geglaubt, diese Vorstellungen von der sexuellen Paarung und der Sexualitätals solcher stünden im Zusammenhang mit der Idee einer Muttergöttin, weil man annahm, den ersten Bauern sei es vor allem um die Fruchtbarkeit ihrer Pflanzen zu tun gewesen. Ich hingegen glaube, dass es nicht wirklich Belege für eine so frühe Vorstellung von einer herrschenden Muttergöttin gibt, denn neuere Funde beinhalten überhaupt keine Frauendarstellungen – die Symbolik ist überwiegend eindeutig phallozentrisch –, insofern bin ich im Moment der Ansicht, dass Sexualität in diesen frühen Agrargesellschaften durchaus eine wichtige Rolle spielte, aber nicht im Hinblick auf Reproduktion/Fruchtbarkeit, Kinder, Mutterschaft und Aufzucht. Es geht vielmehr vor allem um den Geschlechtsakt als solchen.»
Für mich zeugt die Zärtlichkeit der sich umarmenden Figuren nicht von reproduktiver Kraft, sondern von Liebe. Die Menschen begannen, sesshaft zu werden und stabilere Familien zu gründen, sie hatten mehr zu essen und deshalb auch mehr Kinder, und vielleicht konnte nun zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ein Gefährte zum Ehemann oder zur Ehefrau werden.
All diese Vorstellungen mögen sich aus unserer Skulptur der Liebenden herauslesen lassen, aber wir bewegen uns nach wie vor weitgehend im Bereich der historischen Spekulation. Auf einer anderen Ebene jedoch spricht sie absolut direkt zu uns, nicht als Dokument einer sich verändernden Gesellschaft, sondern als vieldeutiges Kunstwerk. Zwischen den Liebenden von Ain Sakhri und Rodins Skulptur
Der Kuss
liegen 11.000 Jahre Menschheitsgeschichte, doch das mensch liche Verlangen und Begehren hat sich, so meine ich, in diesem Zeitraum nicht wirklich verändert.
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Ägyptisches Tonmodell von Rindern
Bemaltes Modell, gefunden bei Abydos (nahe Luxor), Ägypten
3500 v. Chr.
Spricht man von Ausgrabungen in Ägypten, so denken die meisten Menschen sogleich an das Grab des Tutenchamun, an die verborgenen Schätze der Pharaonen und an spektakuläre neue Funde, die das bisherige Geschichtsbild auf den Kopf stellen. Angehende Archäologen seien gewarnt, dass derartige Entdeckungen nur sehr selten vorkommen. Die Archäologie ist in den meisten Fällen eine langwierige, schmutzige Angelegenheit, dem eine noch langwierigere Auswertung des Gefundenen folgt. Und Grabungsberichte sind üblicherweise in abwägender, akademischer, fast klerikaler Nüchternheit formuliert und haben mit der abenteuerlustigen Prahlerei eines Indiana Jones rein gar nichts zu tun.
Im Jahr 1900 entdeckte ein Mitglied der Egypt Exploration Society im Süden Ägyptens ein Grab. Er gab seinem Fund ganz nüchtern-bürokratisch die Bezeichnung «Grab A23» und verzeichnete als Inhalt:
«Leiche, männlich. Stab aus Ton, bemalt mit roten Streifen, mit einer Keulen-kopfimitation aus Lehm. Kleines rotes Tonbehältnis, vierseitig, 23 × 15 cm. Beinknochen eines kleinen Tieres. Töpfe und Standbild mit vier tönernen Rindern.»
Die vier gehörnten Rinder stehen nebeneinander auf fruchtbarem Land. Sie weiden seit ungefähr fünfeinhalbtausend Jahren auf ihrem simulierten Stück Weide. Damit stammen sie wirklich aus dem alten Ägypten und sind sogar älter als die Pharaonen oder die Pyramiden. Diese vier kleinen Tonrinder, die per Hand aus einem einzigen Klumpen Nilschlamm geformt wurden, sind weit entfernt vom Glanz der Pharaonen, aber man könnte durchaus behaupten, dass Kühe und das, wofür sie stehen, weitaus wichtiger waren für die Menschheitsgeschichte. Klein-kinderwurden mit ihrer Milch großgezogen, man hat ihnen Tempel gebaut, ganze Gesellschaften haben sich von ihnen ernährt, ganze Volkswirtschaften waren auf sie gegründet. Unsere Welt wäre eine andere, langweiligere ohne das Rind.
Auf diesen Modellen erkennt man noch heute ganz schwach die Spuren schwarzer und weißer Farbe, die aufgetragen wurde, als der Ton schon leicht gebrannt war; sie ähneln in gewisser Weise den Spielzeugtieren, mit denen viele von uns in ihrer Kindheit Bauernhof gespielt haben. Die Tiere sind nur ein paar Zentimeter hoch, und die Tonfläche, auf der sie stehen, hat in etwa die Größe eines Esstellers. Wie andere Objekte, denen wir noch begegnen werden, zeugt die Tatsache, dass diese Artefakte in Grab A23 zusammen mit einem Mann auf einem Friedhof nahe dem kleinen Dorf El Amra in Südägypten bestattet wurden, von den Folgen des Klimawandels und den Reaktionen der Menschen darauf.
All die Objekte, die man in diesem Grab
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