Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
die Tatsache des landwirtschaftlichen Kreislaufs aus Pflanzen, Ernten und Wiederanpflanzen als auch für den Glauben an einen entsprechenden menschlichen Zyklus aus Geburt, Tod und Wiedergeburt. Darüber hinaus ist er der Stoff, aus dem die Mittelamerikaner sind. Schuf der jüdische Gott Adam aus Staub, so verwendeten die Maya-Götter Mais, um ihre Menschen zu formen. Erzählt wird die mythische Schöpfungsgeschichte im berühmtesten Epos des amerikanischen Kontinents, dem
Popol Vuh
. Über Generationen wurde es mündlich tradiert, ehe es schließlich im 17. Jahrhundert schriftlich fixiert wurde.
«Hier nur beginnt die Idee der Menschwerdung, als man suchte, was zum Fleisch des Menschen werden sollte. Es sprachen also die Gebärerin und der Erzeuger, die Schöpferin und der Former und die Prächtige Gefiederte Schlange, wie ihre Namen lauteten. … In Licht und Klarheit fanden sie, entdeckten sie, was zum Fleisch des Menschen werden solle. Nur wenig fehlte noch, bis sich die Sonne, der Mond und die Sterne über den Häuptern der Schöpferin und des Formers zeigten. Den Ort des Risses in der Erde, den Ort des Spaltes nannte man die Stelle, woher das gelbe Maiskorn, das weiße Maiskorn kam. Hier fanden sie Nahrung im Überfluss, und dann zermahlten sie den gelben und den weißen Mais. Auf diese Weise benutzten sie den Maisteig für die Schöpfung und Formung unserer ersten Ahnen. Nur aus gelbem Mais, aus weißem Mais wurde sein Fleisch. Nur aus Maisnahrung wurden die Arme und Beine des Menschen geformt. Dies waren unsere ersten Väter, vier Menschenschöpfungen waren sie.»
Warum aber wurde ausgerechnet der Mais zum wichtigsten Nahrungsmittel und verehrten Getreide in Amerika und nicht der Weizen oder irgendeine Form vonFleisch? Das hat nichts mit den göttlichen Verbindungen des Maises zu tun, sondern mit den Umweltbedingungen, die Mittelamerika zu bieten hatte. In diesem Teil der Welt waren andere Nahrungsmittel vor gut 9000 Jahren nur begrenzt verfügbar. Es gab keine leicht zu domestizierenden Tiere wie etwa Schweine, Schafe oder Rinder, wie man sie anderswo auf der Welt findet, und Grundnahrungsmittel waren drei Pflanzen, die allmählich angebaut und kultiviert wurden – Kürbis, Bohnen und Mais. Doch Bohnen und Kürbisse wurden nicht zu Göttern. Warum dann der Mais?
Die Pflanzengattung, von welcher der Mais abstammt, die Teosinte, ist wunderbar anpassungsfähig. Sie wächst sowohl im üppig-feuchten Tiefland als auch in den trockenen Gebirgsregionen, so dass Bauern sie überall dort anbauen können, wo sie sich jahreszeitlich bedingt aufhalten. Erntet man das Getreide regelmäßig, führt das zu größerem und üppigerem Wachstum; Mais kann also recht schnell ziemlich ertragreich werden – die Bauern bekamen für die Arbeit, die sie investierten, in der Regel einen ordentlichen Ertrag. Vor allem aber ist Mais reich an Kohlenhydraten, die den Körper sofort mit Energie versorgen. Leider ist er gleichzeitig ziemlich schwer verdaulich, was die Bauern dazu animierte, schon früh einen idealen Begleiter anzubauen, nämlich den einheimischen Chili. Er weist nur einen geringen Nährwert auf, kann jedoch langweilige Kohlenhydrate wunderbar beleben – seine Entwicklung und seine breite Verwendung überall in Mittelamerika machen eindrucksvoll deutlich, dass wir schon seit langer Zeit nicht nur Bauern, sondern auch Feinschmecker sind.
Um 1000 n. Chr. hatte sich der Mais nach Norden und Süden quasi über den gesamten amerikanischen Doppelkontinent ausgebreitet, was durchaus ein wenig überrascht, wenn man bedenkt, dass der Mais in seiner frühesten Form nicht nur nach wenig schmeckte, sondern im Grunde ungenießbar war. Er ließ sich nicht einfach kochen und unmittelbar danach verzehren, wie das heute der Fall ist. Dass der moderne Mais leicht verdaulich ist, hat damit zu tun, dass das Getreide von Generationen von Landwirten höchst selektiv gezüchtet wurde: Man nahm jeweils nur das Saatgut der «besten» Pflanze für den nächsten Anbau. Doch vor 9000 Jahren war der Maiskolben ziemlich hart, und ihn roh zu verspeisen hätte üble Folgen gehabt. Die rohen Körner mussten in einer Mischung aus Wasser und Weißkalk gekocht werden. Ohne diesen etwas komplizierten Prozesshätten sich die beiden wichtigsten Nährstoffe des Getreides, die Aminosäuren und Vitamin B, nicht freisetzen lassen. Anschließend musste das Ganze zu einer Paste zermahlen und dann zu einem ungesäuerten Teig verarbeitet werden. Der Maisgott
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