Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Mumien in Paracas (Kapitel 24), das aufgrund der außergewöhnlich trockenen Bedingungen in der peruanischen Wüste überdauert hat.
Dinge müssen jedoch nicht unbedingt unversehrt erhalten bleiben, um Unmengen an Informationen zu vermitteln. So fand 1948 ein aufmerksamer Strandsucher am Fuße einer Klippe bei Kilwa in Tansania Dutzende kleiner Keramikbruchstücke (Kapitel 60). Es handelte sich dabei im wahrsten Sinne des Wortes um Müll: um Scherben von Geschirr, die weggeworfen worden waren, weil sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Doch als unser Strandsucher sie zusammentrug, wurde ihm allmählich bewusst, dass in diesen Keramikstücken die Geschichte Afrikas von vor tausend Jahren enthalten war. Betrachtet man ihre Vielfalt, so ergibt sich daraus sogar eine ganze Geschichte des Indischen Ozeans, denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass diese Scherben von völlig unterschiedlichen, weit voneinander entfernten Orten stammen. Eine grüne und eine blau-weiße Scherbe sind eindeutig aus Porzellan, das in China in großen Mengen für den Export produziert wurde. Andere Stücke tragen islamische Verzierungen und kommen aus Persien und der Golfregion. Wieder andere stammen von Töpferware ostafrikanischer Urvölker.
Diese Keramikwaren – die alle, so glauben wir, von den gleichen Menschen benutzt und ungefähr zur gleichen Zeit auf den Müllhaufen geworfen wurden – belegen, was in Europa lange Zeit unbekannt war: dass die ostafrikanische Küstenregion zwischen 1000 und 1500 mit dem gesamten Gebiet des Indischen Ozeans in Kontakt stand. Zwischen China, Indonesien, Indien, der Golfregion und Ostafrika herrschte reger Handelsverkehr, bei dem Rohstoffe und Fertigwaren über weite Strecken transportiert wurden. Das war deshalb möglich, weil die Winde im Indischen Ozean – anders als im Atlantik, wo sie häufig Richtung und Intensität wechseln – ein halbes Jahr lang sanft aus Südosten und das anderehalbe Jahr sanft aus Nordwesten wehen, was es Seeleuten ermöglicht, große Entfernungen zurückzulegen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch wieder sicher nach Hause zu kommen. Die Scherben von Kilwa zeigen, dass der Indische Ozean in Wirklichkeit ein riesiger See ist, über den hinweg Kulturen seit Jahrtausenden einen Austausch pflegen, bei dem die Händler nicht nur Waren, sondern auch Ideen im Gepäck haben, und bei dem die Gemeinschaften an seinen Gestaden genauso eng miteinander verbunden sind wie am Mittelmeer. Wie überhaupt diese Geschichte in Objekten unter anderem deutlich macht, dass allein schon das Wort «Mittelmeer» – das Meer in der Mitte der Welt – falsche Assoziationen weckt. Es bildet keineswegs den Mittelpunkt der Erde, und seine maritime Kultur ist nur eine von vielen. Wir werden natürlich keine andere Bezeichnung dafür einführen, aber eigentlich müssten wir das tun.
Die Biographien von Dingen
Würde man es ganz genau nehmen, dann müsste auch dieses Buch eigentlich ein wenig anders heißen, nämlich
Geschichte von Objekten auf ihrem Weg durch viele verschiedene Welten
. Denn eines der Charakteristika von Dingen ist ja, dass sie sich oftmals lange, nachdem sie angefertigt wurden, verändern – oder verändert werden – und dabei Bedeutungen annehmen, die man sich am Anfang niemals hätte vorstellen können.
Eine erstaunliche Vielzahl unserer Objekte trägt die Male späterer Ereignisse. Mitunter handelt es sich dabei einfach um Beschädigungen, die im Laufe der Zeit auftreten, wie im Falle des zerbrochenen Kopfschmucks der Huaxteken-Göttin, oder die auf ungeschickte Ausgrabung oder gewaltsamen Raub zurückzuführen sind. Häufiger jedoch wurden spätere Eingriffe bewusst vorgenommen, um die Bedeutung des Objekts zu verändern oder den Stolz bzw. die Vorlieben des neuen Besitzers zum Ausdruck zu bringen. Das Objekt wird somit zu einem Dokument nicht nur der Welt, für die es gemacht wurde, sondern auch der späteren Zeiten, die es verändert haben. Der Topf der Jōmon-Kultur beispielsweise (Kapitel 10)zeugt von den frühen Fertigkeiten der Japaner in Sachen Keramik und von den Anfängen von Eintöpfen und Suppen vor vielen tausend Jahren, doch seine vergoldete Innenseite erzählt von einem späteren ästhetisierenden Japan, das sichnunmehr seiner eigenen Traditionen bewusst war und seine lange Geschichte neu bewertete und schätzen lernte: Das Objekt ist zu einem Kommentar über sich selbst geworden. Ein noch deutlicheres Beispiel für die vielen Leben eines Objekts ist die
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