Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
die eigenartige Eleganz der Bi-Scheibe und begann Spekulationen darüber anzustellen, wozu sie gedient haben mochte. Sein Ansatz war phantasievoll und wissenschaftlich zugleich: Er konnte erkennen, dass die Scheibe sehr alt war, und untersuchte alle im weiteren Sinne vergleichbaren Objekte, von denen er wusste, aber darüber hinaus war er ratlos. Also schrieb er, wie es typisch für ihn war, ein Gedicht über seinen Versuch, sich die Verwendungsweise des Objekts zu erklären. Anschließend sorgte er dafür – und das mag uns heute fast ein wenig schockieren –, dass dieses Gedicht dem so gepriesenen Objekt selbst eingeschrieben wurde – ein Gedicht, in dem er zu dem Schluss kommt, die wundervolle Bi-Scheibe sei als Schalenständer gedacht gewesen, und so stellte er eine Schale drauf.
Zwar kam Kaiser Qianlong, was den Zweck der Bi-Scheibe angeht, zum falschen Schluss, doch ich muss gestehen, ich bewundere seine Methode. Denkt man mit Hilfe von Gegenständen über die Vergangenheit oder eine ferne Welt nach, so hat das immer etwas von einer poetischen Neuschöpfung. Wir erkennen die Grenzen dessen, was wir mit Sicherheit wissen können, und müssen deshalb nach einer anderen Art der Erkenntnis suchen, immer in dem Bewusstsein, dass die Objekte von Menschen hergestellt wurden, die im Grunde wie wir sind – also sollten wir in der Lage sein herauszufinden, warum die Menschen diese Gegenstände angefertigt haben und welchem Zweck sie dienten. Das ist mitunter vermutlich die beste Möglichkeit, um zu begreifen, worum es in der Welt großteils geht, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in unserer Zeit. Können wir andere Menschen jemals wirklich verstehen? Möglicherweise,aber nur über Kraftakte in Sachen poetischer Vorstellungskraft, gepaart mit streng erworbenem und geordnetem Wissen.
Kaiser Qianlong ist beileibe nicht der einzige Dichter in dieser Geschichte. Shelleys poetische Reaktion auf Ramses II. – sein «Osymandias» – verrät uns zwar nichts darüber, wie diese Statue im alten Ägypten entstanden ist, aber eine Menge über die Faszination, die man Anfang des 19. Jahrhunderts für die Vergänglichkeit von großen Reichen hegte. Beim berühmten Schiffsgrab von Sutton Hoo (Kapitel 47) sind gleich zwei Dichter am Werk: Das epische Heldengedicht des
Beowulf
ist in der historischen Wirklichkeit geborgen, während Seamus Heaneys Evokation des Kriegerhelms diesem famosen Stück angelsächsischer Rüstung drängende Aktualität verleiht. Eine «Geschichte in Dingen» wäre ohne Dichter schlicht unmöglich.
Das Überleben der Dinge
Eine Geschichte der Welt, die mit Hilfe von Objekten erzählt wird, sollte deshalb – ausreichend Vorstellungskraft vorausgesetzt – gerechter und ausgewogener sein als eine, die allein auf Texten beruht. Sie sorgt dafür, dass viele verschiedene Völker «zu Wort kommen», insbesondere unsere Vorfahren in einer sehr fernen Vergangenheit. Die frühe Menschheitsgeschichte – also insgesamt mehr als 95 Prozent unserer Geschichte – lässt sich denn auch nur in Stein erzählen, denn neben menschlichen und tierischen Überresten haben einzig steinerne Objekte überdauert.
Doch auch eine Geschichte mittels Objekten kann niemals wirklich ausgewogen sein, denn sie ist voll und ganz davon abhängig, was zufällig erhalten geblieben ist. Besonders hart ist das im Falle von Kulturen, deren Artefakte überwiegend aus organischen Materialien bestehen, vor allem dort, wo das Klima dafür sorgt, dass diese Dinge sich zersetzen und verfaulen: In den Tropen etwa hat sich kaum etwas aus der fernen Vergangenheit erhalten. In vielen Fällen sind die ältesten organischen Artefakte, über die wir verfügen, diejenigen, die von den ersten europäischen Besuchern mitgenommen wurden. So stammen etwa zwei Objekte in diesem Buch von den Expeditionen Captain Cooks – der bereits erwähnte Schild der Aborigines (Kapitel 89) und der Federhelm aus Hawaii (Kapitel 87) –, diejeweils bei der allerersten Begegnung zwischen diesen Gesellschaften und den Europäern eingesammelt wurden. Selbstverständlich gab es sowohl auf Hawaii als auch im Südosten Australiens schon lange vorher komplexe Gesellschaften, die ausgefeilte Artefakte herstellten. Doch von diesen früheren Gegenständen aus Holz, Pflanzen oder Federn ist so gut wie nichts erhalten geblieben, so dass sich die Frühgeschichte dieser Kulturen heute kaum erzählen lässt. Eine der wenigen Ausnahmen ist das 2500 Jahre alte Stoffstück von
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