Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
ellipsenförmig. Am ehesten erinnert sie mich an eine überdimensionale Schweizer Kuhglocke. Sie ist mit Verzierungen überzogen, mit kunstvollen Streifenornamenten, Rundmedaillons mit Köpfen von Drachen, die gerade eine Ziege verschlingen, und oben drauf stehen zwei prächtige Drachen, die den Henkel halten, an dem die Glocke vermutlich hing. Diese Glocke sollte man nicht nur hören, sondern auch anschauen.
Unsere Glocke dürfte ursprünglich Teil eines ganzen Satzes gewesen sein, der einem Kriegsherrn oder einem mächtigen Beamten in einem der zahllosen Kleinstaaten gehörte. Ein solches Glockenspiel zu besitzen – und sich auch noch das Orchester leisten zu können, das es zum Klingen brachte – war sichtbarer und natürlich auch hörbarer Ausweis großen Reichtums und hohen gesellschaftlichen Rangs. Unsere Glocke zeugte also zunächst einmal von der Macht ihres Besitzers, zugleich aber auch von seiner Vorstellung von Gesellschaft und Kosmos.
Zur Musik finden sich zahlreiche Ausführungen bei Konfuzius, denn sie spielt in seinen Augen eine zentrale Rolle für die Bildung des Individuums – und auch für die Ausgestaltung des Staates. Den Kern von Konfuzius’ Lehre bildete das grundlegende Bedürfnis jedes Einzelnen, seinen Platz in der Welt zu begreifen und zu akzeptieren. Vielleicht hat es damit zu tun, dass chinesischen Glockenspielen so große philosophische Bedeutung zukam – in ihnen spiegelt sich die Vielfalt, aber auch die Harmonie, die entsteht, wenn jede Glocke perfekt gestimmt ist und alle in der vorgesehenen Reihenfolge gespielt werden. Isabel Hilton, Autorin und Expertin für das moderne China, erklärt dazu:
«Harmonie war für Konfuzius sehr wichtig. Dahinter stand bei ihm die Vorstellung, dass sich die Menschen am besten durch Tugendhaftigkeit, durch Güte, durch Rechtschaffenheit regieren lassen; und wenn sich der Mann an der Spitze durch diese Eigenschaften auszeichnet, dann gilt das auch für sein Volk. Wenn man diese Tugenden pflegte und förderte, brauchte man keine Strafen und Gesetze mehr, denn man regierte mit Hilfe des Gefühls für das, was sich ziemte – und mittels Scham. Wendet man diese Vorstellungen an, entsteht eine harmonische Gesellschaft.»
Eine harmonische Gesellschaft ist also immer Folge tugendhafter Individuen, die auf komplementäre Weise zusammenarbeiten. Für einen Philosophen bedeutet es nur einen kleinen Schritt, in einem bestens gestimmten, fein abgestuften Glockenspiel ein Sinnbild für diese ideale Gesellschaft zu sehen – jeder an dem ihm zukommenden Platz, zusammen mit den anderen musizierend.
Glocken haben in China eine rund fünftausend Jahre alte Geschichte. Bei den frühesten Exemplaren dürfte es sich um einfache Handglocken gehandelt haben mit einem Klöppel im Inneren, der den Ton erzeugte. Später wurde der Klöppel entfernt, und die Bronzeglocken wurden zum Klingen gebracht, indem man außen mit einem Hammer dagegen schlug. Unser Einzelstück dürfte einmal zu einem neun- oder vierzehnteiligen Glockenspiel gehört haben. Jede dieser Glocken hatte eine andere Größe und konnte zwei verschiedene Töne produzieren, je nachdem, an welcher Stelle man dagegen schlug. Die Perkussionistin Dame Evelyn Glennie weiß nur zu gut um die Macht der Glocken:
«Jede Glocke hat ihren ganz eigenen Klang. Er kann ganz zart sein, so dass man wirklich aufmerksam hinhören muss, oder eine laute, gewaltig tönende Erfahrung darstellen, die eine ganze Gemeinde vernehmen kann. Ich weiß noch, als ich die ersten Male nach China fuhr, hatten sie dort ein ganzes Gestell mit Glocken, das den hinteren Teil der Bühne zierte, und natürlich musste ich mir das gleich näher ansehen und einfach die Kunstfertigkeit bewundern, die in dieses Meisterwerk eingeflossen war. Ich fragte, ob ich eine anschlagen dürfe, und man gab mir diese lange Holzstange, und ich musste den gesamten Körper einsetzen, um einen Ton zu erzeugen; besonders wichtig ist, dass man die Glocke an der richtigen Stelle trifft. Ich hatte einen ungeheuren Respekt vor dem, was ich da tatsächlich machte. Es war nicht einfach nur so ein ‹Komm, schlag auf die Glocke› oder so. Es war etwas, das ich wirklich zu schätzen wissen wollte, und es war eine unglaublicheErfahrung, einfach nur diesen einen Schlag auszuführen und dann die Erfahrung des Nachklangs im Wortsinne zu er-leben.»
An europäischen Maßstäben gemessen, sind diese chinesischen Bronzeglocken riesig. Etwas vergleichbar Großes wurde in Europa
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