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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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gesprochen? Nachdem ich verhaftet wurde?«
    »Wir haben uns ein paarmal getroffen. Sie haben mir erklärt, wie ich vorgehen soll, um die Anzeige zu ändern. Außerdem haben sie mir etwas Geld gegeben, als ich sie darum bat. Nach deiner Flucht waren sie sehr hilfsbereit – sie haben angeboten, mich in die Schweiz zu bringen. Aber ich wollte lieber bleiben – wegen Lothar.« Sie funkelte ihn wütend an, als wäre das alles nur seine Schuld gewesen. »Die haben mir eine Menge Fragen über dich gestellt. Sehr neugierige Fragen. Und ich habe sie nur zu gern beantwortet. Habe ihnen allerlei pikante Details über Mr Lysander Rief verraten.«
    Ob sie wohl wieder log?, fragte sich Lysander. Waren das Hirngespinste? Er nahm das Glas vom Tisch und trank den Heilschnaps aus. Zuerst die Neuigkeit, dass Munro bei Bensimon in Behandlung gewesen war, und nun stellte sich heraus, dass zwischen Munro, Fyfe-Miller und Hettie irgendwelche Absprachen bestanden hatten. Er versuchte, sich mögliche Ursachen und Folgen vor Augen zu führen, aber die Verwicklungen waren unentwirrbar. Was war 1914 in Wien wirklich vorgefallen? Die Frage ließ ihm keine Ruhe.
    Hettie sprang vom Sofa auf. Sie kam auf Lysanders Sessel zu, ließ sich auf seinen Schoß gleiten, presste sich an ihn und bedeckte sein Gesicht mit lauter kleinen Küssen.
    »Ich weiß, was dir gefällt, Lysander. Denk dir nur, wie viel Spaß wir zusammen haben könnten – drei ganze Tage. Lass uns Unmengen zu essen und zu trinken kaufen, und dann sperren wir uns im Hotelzimmer ein. Wir reißen uns alle Kleider vom Leib … « Sie griff ihm zwischen die Beine.
    »Nein, Hettie. Bitte.« Er stand auf. Sie ließ sich leicht abschütteln – so klein und schmal, wie sie war. »Ich bin verlobt. Zwischen uns ist es aus. Du hättest niemals herkommen dürfen. Ich hatte dich ausdrücklich gebeten, nicht zu kommen. Das hast du allein dir zuzuschreiben.«
    »Du bist ein Schuft«, erwiderte sie mit tränenfeuchten Augen. »Ein mieser, fieser Schuft.« Und so beschimpfte sie ihn in einer Tour, immer lauter, während er in den Mantel schlüpfte und seine Mütze nahm. Er verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Schmähungen machten ihm nichts aus, doch das Letzte, was sie ihm hinterherbrüllte, war: »Und du wirst Lothar niemals zu Gesicht bekommen!«
    Das New-London-Varietétheater am Cambridge Circus war Lysander bisher kein Begriff gewesen. Er wäre dort nie aufgetreten, weil es hauptsächlich Revuen und Possen gab, mit einem Schwerpunkt auf »Ballett, französischen Komödien und Konversationsstücken«. Im Theaterführer – den er nicht wegen des Programms, sondern wegen der Räumlichkeiten konsultiert hatte – stand: »Der aufgeschlossene Besucher wird bald entdecken, dass das Publikum selbst zum Amüsement beiträgt.« Übersetzt hieß das: »Die Theaterbars werden von Prostituierten frequentiert.« Das New London zählte zu einer aussterbenden Sorte von viktorianischen Theatern, wo man in den Bars trinken konnte, ohne eine Karte für die Vorstellung kaufen zu müssen. Was ursprünglich zur Umsatzsteigerung gedacht war, zog unweigerlich andere Gewerbe nach sich. Lysander fielen einige ältere Schauspieler aus seinem Bekanntenkreis ein, die gern in Erinnerungen an die Vorzüge und Tarife der verfügbaren Bordsteinschwalben schwelgten – je höher man stieg, vom Foyer über die Bars im ersten und zweiten Rang bis zum Olymp, desto billiger wurden die Mädchen. Auch Gentlemen aus gehobenen Kreisen besuchten mit Vorliebe diese öffentlichen Theaterbars, weil sie eine perfekte Tarnung boten – dort konnten die Herren in aller Ruhe das Angebot sondieren und ihre Auswahl treffen, während sie sich scheinbar einem völlig unschuldigen Zeitvertreib widmeten: Sie gingen ins Theater – wie überaus lehrreich und erbaulich.
    Die Vorstellung hatte schon begonnen, als Lysander seinen Platz einnahm. Ein »Ballett«, in dem sich Soubretten und ein Coiffeur tummelten, soweit er sehen konnte.
    »Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte er und drehte sich zur Seite, um Vandenbrook in Augenschein zu nehmen. Er war in Zivil, hatte die Haare in der Mitte gescheitelt und mit Brillantine geglättet, außerdem die Schnurrbartenden nach unten gekämmt. Und schon wirkte er ganz anders als die Person, als die er sonst vor die Außenwelt trat – unscheinbarer und wesentlich unattraktiver.
    »Haben Sie die Brille dabei?«
    Vandenbrook zog sie aus der Brusttasche und setzte sie auf.
    »Großartig.

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