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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Abteilung zurück. Er wusste, was er zu tun hatte, und Munro würde die gewünschte Antwort bald bekommen, egal, wie sehr sie ihn verdrießen mochte. Vandenbrook war eingeweiht und hielt sich bereit. Vor seiner Tür wartete schon wieder Tremlett, diesmal sehr aufgeregt.
    »Ah, da sind Sie ja, Sir. Ich dachte schon, dass Sie heute vielleicht nicht mehr zurückkommen.«
    »Da lagen Sie falsch, Tremlett. Was gibt’s?«
    »Unten ist ein Mann, der Sie unbedingt sprechen will. Behauptet, er sei Ihr Onkel, Sir – ein gewisser Major Rief.«
    »Der in der Tat mein Onkel ist. Führen Sie ihn unverzüglich zu mir. Und bringen Sie uns eine Kanne Kaffee.«
    Lysander ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Vom vielen Weißwein war er leicht benebelt, aber er freute sich auf das unverhoffte Wiedersehen mit Hamo, der selten in der Stadt war. »London ängstigt mich zu Tode«, pflegte er zu sagen.
    Als Tremlett seinen Onkel hineinführte, wusste Lysander auf Anhieb, dass etwas nicht stimmte.
    »Was ist los, Hamo? Femi ist doch hoffentlich nichts zugestoßen?« Die Kämpfe in Westafrika waren inzwischen vorbei – alles war nach Osten gerückt.
    »Mach dich auf das Schlimmste gefasst, mein Junge … «
    »Was ist passiert?«
    »Deine Mutter ist gestorben.«

16. Autobiographische Untersuchungen
    Ein Mythos besagt, dass unter den Dutzenden oder Hunderten von Todesarten, die uns Menschen zur Verfügung stehen, der Tod durch Ertrinken der schönste sei – dass man dabei im Moment des Sterbens reine Euphorie erlebt. Ich werde mich an diesen Mythos halten, auch wenn die Vernunft Zweifel sät: Wer hätte dies je bezeugt? Wo ist das belegt?
    Als ich den Leichnam meiner Mutter beim Bestatter in Eastbourne sah, wirkte sie jedoch in der Tat heiter und gelassen. Blasser als sonst, mit einem leichten bläulichen Schimmer auf den Lippen, die Augen geschlossen, als ob sie schliefe. Ich küsste sie auf die Stirn und verspürte einen Stich, denn ich musste an das letzte Mal denken, als ich sie so geküsst und dabei in den Armen gehalten hatte, warm und lebendig. Ich lasse nicht zu, dass dir diese Sache zum Verhängnis wird.
    Hamo hat mir gesagt, dass in Claverleigh ein versiegelter Brief für mich hinterlegt ist, aber ich weiß schon, ohne ihn gelesen zu haben, dass sie ein Geständnis verfasst hat. In seiner unendlichen Güte stellte Hamo die kühne These auf, es könne sich um einen tragischen Unfall gehandelt haben – ein Stolpern, ein Sturz, Bewusstlosigkeit. Doch ich sagte zu ihm, ich sei überzeugt, dass es Selbstmord war, und der Brief werde dies nur bestätigen. Ihre Leiche war bei Morgenanbruch am Kiesstrand von Eastbourne, wo die Flut sie angespült hatte, gefunden worden, vom sprichwörtlichen Spaziergänger, der seinen Hund im ersten Licht Gassi führte. Sie war vollständig bekleidet, hatte ihren gesamten Schmuck abgelegt, ein Schuh fehlte.
    Plötzlich musste ich an einen Satz von Wolfram Rozman denken – er schien vor Äonen gefallen zu sein, stammte aus dieser unfassbaren, unvorstellbaren Welt vor dem Kriegsausbruch, bevor sich jedermanns Leben für immer veränderte. Als ich Wolfram einst fragte, was er im Fall eines Schuldspruchs getan hätte, antwortete er – munter und beiläufig – , dass er sich selbstredend das Leben genommen hätte. Ich hatte Wolfram gleich wieder vor Augen – in seinem karamellbraunen Anzug, leicht schwankend, angesäuselt vom Champagner, den er zur Feier des Tages geköpft hatte, während er allen Ernstes erklärte: »In unserem verfallenden Kaiserreich gilt der Freitod als vollkommen vernünftige Lösung.« Ob das wohl nur Prahlerei war, das Maulheldentum eines geborenen Husars? Nein, denn Wolfram hatte zwar lächelnd, aber mit unerbittlicher Logik hinzugefügt: »Sobald du das verstehst, verstehst du uns. Wir haben ihn zutiefst verinnerlicht. Den Selbstmord – das Wort spricht für sich. Eine durchaus ehrenwerte Art, diese Welt zu verlassen.« Meine Mutter hat diese Welt auf ehrenwerte Art verlassen. Und Schluss.
    Hugh, die ganze Familie Faulkner, ist zutiefst schockiert. Ich verspüre nicht nur Trauer, sondern auch kalte Wut. Meine Mutter ist ein unschuldiges Opfer dieser ganzen Andromeda-Angelegenheit, genau wie die beiden Männer, die ich in einer Juninacht im nordfranzösischen Niemandsland mit meinen Granaten getötet habe. Wie Anna Faulkner waren sie in die Kausalkette eingebunden.
    Mein lieber Sohn,
    ich möchte nicht, dass Du meinetwegen zu Schaden kommst. Du sollst wissen, dass ich meine

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