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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Entscheidung aus reinen Vernunftgründen getroffen habe. Zwar fällt mir der Abschied von dieser Welt nicht ganz leicht, aber er wird so viel Gutes bewirken, dass mein Bedauern sich in Grenzen hält. Ich werde einfach weg sein, mein Schatz, mehr heißt das ja nicht. Und da dieser Umstand sich ohnehin früher oder später ergeben musste, spielt der Zeitpunkt in meinen Augen keine Rolle. Seit mein Entschluss feststeht, ist mir viel leichter ums Herz. Auf diese Weise wirst Du Deinen Weg frei und unbelastet von den Unbesonnenheiten Deiner Mutter fortsetzen können. Du ahnst nicht, wie sehr mich unser letztes Gespräch mitgenommen hat, aufgrund Deiner Bereitschaft, Dich selbst zu gefährden und das Falsche zu tun, nur, um mich zu schützen. Du wolltest Dich sehenden Auges für mich opfern, und das konnte ich nicht zulassen. Mit dieser Schuld hätte ich nicht leben können. Was ich tun werde, ist jedoch kein Opfer. Du musst wissen, dass das für mich eine ganz rationale Vorgehensweise darstellt.
    Lebe wohl, mein Schatz. Bewahre mich im Herzen und denke täglich an
    Deine Dich liebende Mutter
    Bilder. Meine Mutter. Mein Vater. Wie sie bei seiner Beerdigung weinte, die Tränen wollten kein Ende nehmen. Die trostlose Wohnung in Paddington. Claverleigh. Ihre Schönheit. Ihr Gesang – ihre klangvolle, weiche Stimme. Dieser furchtbare sonnendurchflutete Nachmittag im Wald von Claverleigh. Die Art, wie sie bei Tisch unbewusst mit den Gabelzinken auf den Teller klopfte, um einer Bemerkung Nachdruck zu verleihen. Die Nacht, als ich sah, wie mein Vater sie im Wohnzimmer küsste, im Glauben, ich schliefe bereits. Wie sie beide gelacht haben, als ich entrüstet hereinstapfte. Die Gemme aus schwarzem Onyx mit dem eingravierten »H«, die sie als Anhänger trug. Die Art, wie sie eine Zigarette rauchte, ihren zarten hellen Hals zur Schau trug, wenn sie das Kinn hob und den Rauch ausstieß. Wie selbstsicher sie einen Raum betrat, als würde sie auf die Bühne gehen. Was hätte anderes aus mir werden sollen, mit solchen Eltern? Wie kann ich meine Mutter am besten rächen?
    Dr. Bensimon hat mich vor zwei Stunden empfangen. Ich hatte ihn gleich nach meiner Rückkehr aus Eastbourne angerufen.
    »Ich wünschte, ich könnte behaupten, es sei fast unmöglich gewesen, so kurzfristig ein Stündchen für Sie zu finden. Aber Sie sind heute mein einziger Patient.«
    Ich lag auf der Couch und teilte ihm ohne Umschweife mit, dass meine Mutter sich umgebracht hatte.
    »Mein Gott. Das tut mir sehr leid.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Was empfinden Sie dabei? Fühlen Sie sich schuldig?«
    »Nein«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. »In gewisser Weise würde ich mich gern schuldig fühlen, aber dafür respektiere ich meine Mutter zu sehr. Ist das einigermaßen nachvollziehbar? Sie hat sehr überlegt gehandelt. Mit kühlem Kopf und logisch begründet. Und ich denke, dazu hatte sie jedes Recht.«
    »Das kommt mir sehr wienerisch vor«, sagte Bensimon und entschuldigte sich sogleich. »Ich wollte nicht respektlos sein. Aber dieser Ausweg wird dort gern gewählt. Sie wissen gar nicht, wie viele meiner Patienten ebenso gehandelt haben – nicht spontan, sondern wohlüberlegt. Eine rein rationale Handlung. Haben Sie eine Vorstellung, warum Ihre Mutter das getan hat?«
    »Ja. Es hatte wohl mit meiner Tätigkeit zu tun … « Ich dachte kurz nach. »Mit dem Krieg und mit meiner momentanen Arbeit. Tatsächlich wollte sie mich beschützen, ob Sie es glauben oder nicht.«
    »Wollen Sie über Ihre Mutter sprechen?«
    »Nein. Aber ich möchte Sie gern etwas fragen, in Bezug auf eine andere Person. Erinnern Sie sich an unsere erste Begegnung in Ihrer Wiener Praxis?«
    »Als Miss Bull unbedingt ihren Willen durchsetzen musste. Ja – das vergisst sich nicht so leicht.«
    »Außer mir war noch ein anderer Engländer da, von der Botschaft – ein Militärattaché. Alwyn Munro.«
    »Ja, Munro. Ich kenne ihn recht gut. Wir haben zusammen studiert.«
    »Ach. Hat er Sie jemals auf mich angesprochen?«
    »Bedaure, das kann ich nicht beantworten«, sagte Bensimon.
    Ich wandte mich zu ihm um. Er saß hinter seinem Schreibtisch, die Stirn in die Hände gestützt.
    »Weil Sie es nicht mehr wissen?«
    »Nein. Weil er mein Patient war.«
    »Patient?« Vor Verblüffung setzte ich mich auf und wirbelte herum. »Was hatte er denn?«
    »Es versteht sich von selbst, dass ich auch diese Frage nicht beantworten kann. Hauptmann Munro hatte damals schwerwiegende

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