Eine große Zeit
Raum verschwamm vor seinen Augen, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Endlich schlafen. Vorsichtig ging er ins Schlafzimmer zurück, stützte sich dabei mit einer Hand an der Wand ab. Gott, war das Zeug stark. Er warf sich aufs Bett und dämmerte selig ein. Wien. Das war es. Das musste es sein …
»Alles in Ordnung, Sir?«, fragte Tremlett. »Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus.«
»Es geht mir gut, Tremlett. Mich beschäftigt nur einiges.«
»Ich befürchte, gleich wird Sie noch mehr beschäftigen, Sir. Der Oberstleutnant will Sie sehen.«
Lysander rauchte schnell eine Zigarette, überprüfte gründlich Sitz und Zustand seiner Uniform, damit Osborne-Way die Genugtuung versagt bliebe, ihn einer »schlampigen Erscheinung« zu bezichtigen, und ging zügigen Schrittes zum Büro des Abteilungsleiters.
Osborne-Ways Sekretärin mied Lysanders Blick, als sie ihm die Tür aufhielt. Er salutierte, nahm die Mütze ab und stellte sich locker hin. Osborne-Way blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen. Er bot Lysander keinen Stuhl an.
»Hauptmann Keogh wurde heute früh um sechs zu Hause verhaftet. Er wird in New Scotland Yard festgehalten.«
Lysander schwieg.
»Wollen Sie mir nicht antworten, Rief?«
»Sie haben mir keine Frage gestellt, Sir. Sie haben eine Tatsache geäußert. Ich ging davon aus, dass darauf eine Frage folgen würde.«
»Wenn ich Sie so ansehe, frage ich mich, warum wir diesen Krieg überhaupt führen, Rief. Bei Leuten wie Ihnen dreht sich mir der Magen um.«
»Das höre ich mit Bedauern, Sir.«
»Dass ein Geck, ein Hanswurst wie Sie es zum Offizier gebracht hat, ist eine Schande für die britische Armee.«
»Ich versuche nur, meine Pflicht zu tun, Sir. Genau wie Sie.« Lysander deutete auf seine Verwundetenauszeichnung am Ärmel. »Ich habe meinen Dienst an der Front geleistet und zum Beweis Narben davongetragen.« Er freute sich über den peinlich berührten Ausdruck, den Osborne-Way kurzzeitig annahm – der Stabsoffizier auf Lebenszeit mit seinem behaglichen Quartier und den Pariser Spesenwochenenden.
»Mansfield Keogh ist ein hervorragender Mann. Sie sind es nicht einmal wert, ihm die Schuhe zuzubinden.«
»Wenn Sie das sagen, Sir.«
»Was haben Sie gegen ihn in der Hand? Was hat Ihre schmierige kleine Untersuchung ans Licht gebracht?«
»Das darf ich Ihnen leider nicht sagen, Sir.«
»Ich befehle Ihnen aber, es mir zu sagen! Sie Drecksstück! Sie Abschaum!«
Lysander ließ sich ein paar Sekunden Zeit, bevor er – den näselnden, schleppenden Tonfall leicht verstärkend – antwortete.
»Da müssen Sie sich leider direkt an den Chef des Imperialen Generalstabes wenden, Oberstleutnant.«
»Raus mit Ihnen!«
Lysander setzte die Mütze wieder auf, salutierte und ging.
In Zimmer 205 erwartete ihn ein Telegramm.
ANDROMEDA. SPANIARDS INN. MORGEN FRÜH 7 UHR.
Es hatte nicht einmal vierundzwanzig Stunden gedauert, dachte Lysander beeindruckt. Ihm blieb gerade noch genug Zeit, um alles vorzubereiten.
19. Warten auf den Sonnenaufgang
Lysander ließ sich vom Taxi am oberen Ende der Heath Street absetzen, etwa in Höhe des Fahnenmastes von Hampstead. Dem Spaniards Inn wollte er sich lieber zu Fuß nähern. Es war halb sechs in der Frühe und immer noch tiefdunkle Nacht. Er trug einen schwarzen Mantel, einen schwarzen Schal sowie einen schwarzen Trilby. Es war so kalt, dass sein Atem zu einer dichten Wolke kondensierte, als er den Weg vom Fahnenmast zum Gasthof in Angriff nahm, eine halbe Meile entlang der Spaniards Road, am höchsten Punkt des Parks. Wegen der spärlich verteilten Straßenlaternen konnte er kaum etwas sehen, doch er wusste, dass ganz London im Süden lag, und zu seiner Rechten hörte er den Wind in die riesigen Eichen von Caen Wood fahren – die schweren Äste ächzten und knarrten wie Mast und Baum eines Segelschiffs auf hoher See. Der Wind wurde immer stärker und böiger, so dass Lysander seinen Hut fester auf den Kopf drückte, während er sich dazu ermahnte, ruhig zu bleiben, egal, was passieren würde. Alles war bestens vorbereitet.
Bald hatte er das Zollhäuschen gegenüber vom Spaniards Inn erreicht. Beim Warten auf den Sonnenaufgang rauchte er eine Zigarette. Sonnenaufgang und Klarheit – dafür war es höchste Zeit. Bizarrerweise schenkten ihm die letzten dunklen Minuten wieder mehr Sicherheit, als er am Zollhäuschen lehnte und den Gasthof fixierte – in einem der Dachfenster war nun Licht zu sehen – , in dem sogar Charles Dickens sich den einen
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