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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Niemand.
    »Was ist los?«, fragte Lysander.
    »Mir ist jemand gefolgt. Heute Morgen stand dieser Mann vor meinem Haus. Ich bin sicher, dass er ins Auto gestiegen und meinem Taxi nachgefahren ist.«
    »Wer sollte Sie denn verfolgen? Das bilden Sie sich bestimmt nur ein. Verraten Sie mir lieber, was Sie wissen.«
    Inzwischen waren sie tief in den Wald vorgedrungen. Im perlgrauen Licht der Morgendämmerung fiel Lysander auf, wie groß und alt die Bäume waren, die sie umgaben – Buchen, Eschen und Eichen. An ihrem Fuß wuchsen Stechpalmen, und das Unterholz zu beiden Seiten des Pfades war undurchdringlich. Wie im Urwald – schwer zu glauben, dass sie sich in einem Bezirk von Nord-London befanden. Der Wind wurde noch stärker, pfeifend blies er in die Kronen, die Äste gaben stöhnend nach. Lysander stopfte sich die wehenden Schalenden in den Mantelkragen.
    »Möchten Sie vielleicht etwas Rum?« Er bot Vandenbrook seinen Flachmann an.
    Der Hauptmann nahm ein paar große Schlucke und gab Lysander den Flachmann zurück.
    »Nun sagen Sie schon – wer ist Andromeda?«
    »Kein Er, sondern eine Sie. Das hat Sie in die Irre geführt.«
    »Und wer ist sie?«
    »Ich werde von einer Frau erpresst – sie heißt Anna Faulkner. Der Name täuscht. Sie ist Österreicherin. Unser Feind.«
    »Sie ist tot. Sie hat sich umgebracht.«
    »Ich weiß, aber –« Vandenbrook brach mitten im Satz ab. Entsetzt fragte er: »Woher wissen Sie das?«
    »Weil sie meine Mutter – war.«
    Vandenbrook starrte ihn fassungslos an. Seine anfängliche, fast panische Aufregung wich eisiger Erstarrung. Er konnte die Fassade nicht mehr aufrechterhalten. Zwei Männer im Morgengrauen, in einem wilden Wald, bei stürmischem Wind.
    Vandenbrook zog aus seiner Manteltasche einen Revolver hervor, den er auf Lysander richtete.
    »Sie sind verhaftet«, sagte der Hauptmann.
    »Verhaftet? Sind Sie verrückt?«
    »Sie haben mit Ihrer Mutter unter einer Decke gesteckt. Zwei österreichische Spione. Sie haben mich beide erpresst.«
    Lysander konnte ein Lachen nicht unterdrücken.
    »Eins muss man Ihnen lassen, Vandenbrook – Sie sind überragend. Der beste Schauspieler, den ich kenne. Besser als jeder Profi. Ein Naturtalent. Sie haben Ihre Berufung verfehlt.«
    Vandenbrook deutete ein Lächeln an.
    »Sind wir nicht alle Schauspieler? Zumindest in unseren wachen Stunden. Sie, ich, Ihre Mutter, Munro und die anderen. Manche sind besser, andere schlechter. Niemand kann sagen, was wirklich, was echt ist. Darüber gibt es keine Gewissheit.«
    »Warum haben Sie das getan, Vandenbrook? Wegen des Geldes? Sind Sie vielleicht pleite? Oder wollten Sie es Ihrem Schwiegervater so richtig heimzahlen? Ist er Ihnen so verhasst? Oder wollten Sie sich einfach mächtig und bedeutend fühlen?«
    »Sie wissen doch warum«, erwiderte Vandenbrook ungerührt. »Weil man mich erpresst hat – weil mich diese verfluchte Andromeda erpresst hat –«
    Eine besonders heftige Böe riss Lysander den Hut weg, gleich darauf explodierte Vandenbrooks Kopf und schien dabei einen rosigen Blutnebel zu versprühen. Unsichtbare Kräfte schleuderten ihn zu Boden.
    Lysander schloss die Augen, zählte bis drei und öffnete sie wieder. Vandenbrook lag noch immer da, die linke Schädelhälfte weggeblasen, die Haare verklebt, mit hervorquellender Gehirnmasse und Strömen von dickflüssigem Blut, das an Öl erinnerte. Lysander nahm seinen Hut vom Boden, setzte ihn wieder auf und trat ein paar Schritte zurück. Als er sich umdrehte, sah er Hamo zwischen den Bäumen hervorkommen, sein Martini-Henry-Gewehr schulternd.
    »Geht’s?«, fragte Hamo.
    »Einigermaßen.«
    »Ich hätte ihn ja früher umgenietet – schon, als er den Revolver zückte – , aber ich habe auf dein Zeichen gewartet. Warum hast du so lange gebraucht?«
    Lysander hörte nur mit halbem Ohr hin. Er betrachtete Vandenbrook. Aus dieser Perspektive war nur ein winziges rotes Loch unter seinem rechten Ohr zu sehen.
    »Entschuldige, Hamo. Was hast du eben gesagt?«
    »Warum hast du so lange gebraucht, um den Hut abzunehmen?«
    »Ich wollte mehr über die Sache erfahren. Endlich ein paar Antworten bekommen.«
    »Ziemlich riskant, wenn jemand seine Waffe auf dich richtet. Du musst den ersten Schlag ausführen, Lysander, und zwar richtig. Das ist mein Motto. Darum habe ich ein Dum-Dum-Geschoss verwendet. Tötet auf Anhieb, fertig.«
    Hamo beugte sich über die Leiche, um die Wirkung seines Deformationsgeschosses zu begutachten, während Lysander sein

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