Eine große Zeit
Kriegsmaschinerie des zwanzigsten Jahrhunderts sowohl an ihrem wuchtigen bürokratischen Ursprung als auch an ihrem fragilen menschlichen Ziel erleben. Doch ungeachtet der wertvollen Einblicke, die mir vergönnt waren, habe ich erkannt, dass mit zunehmendem Wissen jede Klarheit und Gewissheit dahinschwindet. Je mehr wir in die Zukunft voranschreiten, desto sichtbarer wird dieser Gegensatz zutage treten – klar und schwarz, schwärzlich klar. Je mehr wir wissen, desto weniger wissen wir. So merkwürdig das klingt, kann ich mit dieser Vorstellung ohne weiteres leben. Wenn das unsere moderne Welt ist, bin ich wohl ein ganz moderner Mann.
Mittags habe ich mich mit Munro getroffen, am Trafalgar Square, beim nordöstlichen Löwen am Fuß der Nelsonsäule. Es war grau, kühl und regnerisch, wir trugen beide gummierte Regenmäntel, wie die Touristen. Kurz zuvor war ein starker Schauer niedergegangen, so dass die Pflastersteine kräftig glänzten und die feuchten verrußten Fassaden der Gebäude ringsum – das Royal College of Physicians, die National Gallery, St. Martin’s – fast samtig schwarz wirkten. So flüchtig wie vergeblich versuchten ein paar Sonnenstrahlen die dicken grauen Wolken zu durchbrechen und erhellten doch nur ein paar Zwischenräume, die der heftig blasende Wind freilegte; in Verbindung mit der dunklen, violett schimmernden Masse von neuen Regenwolken, die an der Themsemündung aufzogen, ergab das ein eigentümlich golden-bleifarbenes Licht. Als wäre die Stadtlandschaft rund um Pall Mall, Whitehall und Northumberland Avenue in Bogenlicht getaucht, künstlich und fremd wie ein Bühnenbild, das nach Belieben beleuchtet und auf- oder abgebaut werden kann. Angesichts dessen verspürte ich beinah so etwas wie Lampenfieber, als sollte ich gleich in einem Stück auftreten.
MUNRO: Warum treffen wir uns hier, Rief? Was soll das Theater?
LYSANDER: Zurzeit bevorzuge ich öffentliche Räume, das verstehen Sie sicher.
MUNRO: Wir haben »Andromeda« natürlich gefunden, im Wald, mit dem Zettel. Die Polizei hat uns gerufen … Alles sehr hübsch arrangiert. Dafür sind wir wirklich dankbar.
LYSANDER: Vandenbrook ist raffiniert vorgegangen. Äußerst raffiniert.
MUNRO: Nicht raffiniert genug. Sie haben ihn erwischt und mit ihm kurzen Prozess gemacht. Ich habe Ihren Bericht gelesen. Gründliche Arbeit.
LYSANDER: Gut. Er wurde nämlich nie erpresst. Das war der erste seiner raffinierten Tricks. Für den Fall, dass man ihm auf die Schliche käme, hatte er bereits vorgesorgt. Das kleine Mädchen, die Perlen, die Zeugenaussage hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Das diente ihm nur als Ausrede – und hätte ihm womöglich den Henker erspart, wenn er sich nicht erschossen hätte.
MUNRO: Ja … Wie sind Sie schließlich auf ihn gekommen?
LYSANDER: Ich muss zugeben, dass ich ihm die Erpressungsgeschichte voll und ganz abgekauft habe. Doch dann hat er sich verraten – es war nur ein winziger Versprecher, den ich zunächst sogar überhört habe. Es fiel mir erst Stunden später auf, als ich nicht einschlafen konnte.
MUNRO: Bestimmt erzählen Sie mir, was das war.
LYSANDER: An dem Abend, als wir uns alle im Varietétheater getroffen haben, hat Vandenbrook auf die Umschlagabbildung von Andromeda und Perseus angespielt.
MUNRO: Glockners Schlüsseltext –
LYSANDER: Genau. Ich hatte die Oper erwähnt, und er sagte, sie sei doch etwas anrüchig. Wie konnte er das wissen? Er hatte die Oper nie gesehen. Das Libretto mit dem gewagten Umschlag allerdings schon, denn das hatte er aus dem Büro meiner Mutter entwendet und als Grundlage für den Glockner-Code genutzt.
MUNRO [nachdenklich]: Ja … Was haben Sie eigentlich mit diesem Treffen im Varietétheater bezweckt?
LYSANDER: Vandenbrook sollte Sie in Augenschein nehmen – Sie, Fyfe-Miller und Massinger. Ich wollte sehen, ob er einen von Ihnen identifizieren kann. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich ja noch, dass er erpresst wird.
MUNRO: Heißt das, Sie hatten einen von uns im Verdacht?
LYSANDER: Ich fürchte ja. Damals schien das plausibel. Ich dachte wirklich, dass einer von Ihnen die echte Andromeda war. Bis Vandenbrook diese Bemerkung entschlüpft ist.
MUNRO: Ich verstehe nur nicht –
LYSANDER: In Wien habe ich einen österreichischen Offizier kennengelernt, den man des Diebstahls bezichtigt hatte. Inzwischen bin ich von seiner Schuld überzeugt, aber außer ihm gab es noch elf andere Verdächtige, die ihm gewissermaßen als Schutzschirm dienten. Er hat die
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