Eine große Zeit
ist er nach London gefahren und hat Dich beschattet. Als Du ihn nach dem Zeppelinangriff gesehen hast, ist er in Panik zurückgefahren und hat mir alles gestanden.
Ich weiß, dass Du und ich immer Freunde bleiben werden, und ich wünsche Dir alles erdenkliche Glück für Dein künftiges Eheleben (Deine Frau in spe kann sich glücklich schätzen!).
Alles, alles Liebe, Hettie (nie wieder Venora)
PS: Wenn Du es irgendwie einrichten könntest, mir über das Hauptpostamt von Liverpool 50 Pfund zukommen zu lassen, wäre ich Dir unendlich dankbar. In zwei Wochen fahre ich über den großen Teich.
UNTER DEM EINFLUSS VON CHLORALHYDRAT VERFASSTE ZEILEN
Der Sommer war sehr groß, damals in Wien.
Er fiel heiß vom weißen Himmel, schwer wie Glas.
Ich darf nicht hoffen
Ich kann nicht sehen
Ich hoffe sehe nichts
Was spielten die Kapellen im Prater auf?
Niemand hat mir gesagt, wo es langgeht.
Sie war angenehm.
Sie war erfreulich.
Uns war keine Ruhe vergönnt
Im Hôtel du Sport et Riche.
Hoffnung sehe ich nicht
Hoffnung sieht mich nicht
Schwarzschwärzeramschwärzestenschwarzweiß
Wir aalten uns im Flachs schnappten Lachs
Wir rochen an Rokokorosen lockten Storche
Wir kicherten knietief im Kies versinkend
Dreh mich um, leg mich flach, mach mich platt.
Schwarz ach, ach – blind bin ich.
Tura-lu, Madame, Tura-li, Hala-li La-lu
Ein Traum von einer Frau.
Blanche und ich haben den Termin für unsere Hochzeit im Frühling festgelegt – Mai 1916. Hamo wird mein Trauzeuge sein. Blanche und ich verbringen viele Nächte zusammen, allerdings brauche ich nach wie vor Chloralhydrat, wenn ich schlafen will. Einmal die Woche suche ich Dr. Bensimon in Highgate auf, und wir sprechen alles durch, was in den letzten zwei Jahren passiert ist. Der Parallelismus zeigt allmählich Wirkung – in meiner neuen Version klettern der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart und der hellblonde Junge aus dem Verbindungsgraben, bevor die Granaten explodieren. Sie sind zwar beide leicht verletzt, aber sie gelangen hinter die deutschen Linien. Je mehr ich mich auf diese Geschichte konzentriere und sie mir bis ins kleinste Detail ausmale, desto mehr berückt mich ihre Glaubwürdigkeit. Vielleicht werde ich eines Nachts wieder ohne chemische Hilfe einschlafen können.
Ich habe Feldwebel Foley an die Adresse des Blindenhospitals von Stoke Newington geschrieben, aber bisher keine Antwort bekommen. Vielleicht sollte ich lieber keine neuen Fakten über diese Nacht in Erfahrung bringen – es ist schon schwer genug, diejenigen zu bewältigen, die mich unablässig verfolgen – , aber ich würde Foley gern treffen und ihm die Hintergründe erklären.
Morgen habe ich ein Vorsprechen – ich finde in mein altes Leben zurück. Eine Wiederaufnahme von George Bernard Shaws Mensch und Übermensch .
Nun sitze ich da und betrachte das Foto von Lothar, das Hettie mir geschickt hat. Das Studioporträt eines traurigen kleinen Jungen – allem Anschein nach ist er den Tränen nah – , der in seinem bestickten Pseudo-Bauernkittel aussieht wie ein Mädchen. Lange, dunkle Locken. Ähnelt er mir eigentlich? Zunächst denke ich – ja. Und dann – nein, gar nicht. Ist er überhaupt mein Sohn? Hettie hat Udo Hoff mit mir betrogen – da könnte sie mich doch mit einem anderen betrogen haben? Wie soll ich jemals Gewissheit erlangen?
Diese Frage führt mich, wie so oft, an jenen frühen Oktobermorgen in Hampstead Heath zurück, als ich auf den Sonnenaufgang wartete, auf Vandenbrooks Erscheinen. Ich wusste, dass er es wäre, und ich hoffte, dass die Sonne Klarheit bringen würde – oder zumindest ein wenig Licht. Und als ich den »Andromeda«-Zettel an Vandenbrooks Mantel heftete, glaubte ich, alles gelöst zu haben. Restlos alles. Doch im Lauf des Tages setzten mir neue Fragen zu, sie ließen mir keine Ruhe und lösten weitere Überlegungen aus, so dass bei Sonnenuntergang die Verwirrung wieder perfekt war. Vielleicht ist das Leben so – wir wollen klarsehen, aber das, was wir zu sehen bekommen, ist niemals klar und wird es nie sein. Je mehr wir uns um Klarheit bemühen, desto undurchsichtiger wird es. Uns bleiben nur Annäherungen, Abschattungen, eine Fülle von möglichen Erklärungen. Suchen Sie sich eine aus.
Nach allem, was ich erlebt habe, bin ich der Meinung, etwas von unserer modernen Welt zu verstehen, so, wie sie heute ist. Und vielleicht habe ich sogar eine kleine Vorschau auf die Zukunft bekommen. Ich durfte die mächtige industrielle
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